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Das Haus der Madame Rose

Das Haus der Madame Rose

Titel: Das Haus der Madame Rose
Autoren: Tatiana de Rosnay
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nach dem Staatsstreich? Der Präfekt wartete währenddessen geduldig in einem riesigen Zelt unter der unbarmherzigen Sonne. Auch ihn sah ich nicht zum ersten Mal. Wie der Kaiser paradierte auch er gern und legte Wert darauf, sein Bild in allen Zeitungen zu sehen. Nach insgesamt acht Jahren der Stadtzerstörung wussten wir Pariser alle ganz genau, wie unser Präfekt aussah – oder der Baron, wie Du ihn immer nanntest. Trotz der zermürbenden Hitze wurden endlose Reden voller Eigenlob gehalten. Die beiden Männer verbeugten sich immer wieder voreinander, andere Herren wurden ins Zelt gerufen und durften sich hochwichtig fühlen. Der übergroße Vorhang, der vor den neuen Boulevard gespannt war, wurde feierlich zurückgezogen. Das Publikum frohlockte und applaudierte. Ich nicht.
    Damals und dort wusste ich schon, dass der große bärtige Mann mit dem Furcht einflößenden Kinn mein erbittertster Feind werden würde.

Ich war beim Schreiben so in Gedanken , dass ich Gilberts Klopfen nicht hörte. Es ist ein Code – ein Kratzen mit seinem Haken, zweimal kurz, einmal lang. Ich glaube nicht, dass Du diesen Mann je gesehen hast, doch ich erinnere mich, dass Du Dich damals, als unsere Tochter noch klein war, auf dem Marktplatz gern mit ein paar Lumpensammlern unterhieltst. Ich stand auf und öffnete ihm die Tür, ganz vorsichtig, damit niemand uns sieht. Es ist nun Mittag vorbei, und die Männer mit dem dröhnenden Lärm ihres Zerstörungswerks werden bald zurück sein. Die Tür quietscht noch immer, wie seit dem ersten Tag vor vielen, vielen Jahren, als ich mit Dir hier erstmals über die Schwelle trat.
    Gilbert bietet einen erschreckenden Anblick. Groß, ausgemergelt, schwarz vor Dreck und Ruß, sein Haar verfilzt, sein Gesicht ein Gewirr aus Runzeln wie die verwitterte Rinde eines alten Baums. Die wenigen Zähne sind gelb, seine Augen leuchten grün. Er schlüpft herein, zieht seinen Gestank hinter sich her, aber ich bin mittlerweile daran gewöhnt – eine tröstliche Mischung aus Schnaps, Tabak und Schweiß. Sein langer schwarzer Überrock ist zerknittert und schleift über den Boden. Sein Rücken ist gerade, trotz der schweren Weidenkiepe, die er an Gurten trägt. Ich weiß, dass er seine Habseligkeiten darin aufbewahrt, all die kleinen Dinge, die er im Morgengrauen mit der Laterne in der einen Hand, den Haken in der anderen, umsichtig aufsammelt: Schnur, alte Bänder, Münzen, Eisen- und Kupferstücke, Zigarrenstumpen, Obst- und Gemüseschalen, Nadeln, Papierschnipsel, welke Blumen. Und natürlich Essen. Sowie Wasser.
    Ich habe gelernt, nicht die Nase zu rümpfen über das, was er mir bringt. Wir essen schnell zusammen mit den Fingern. Nein, das ist nicht sehr vornehm. Nur eine Mahlzeit am Tag. Im fortschreitenden Winter wird es immer schwieriger, Kohle zu finden und unser frugales Mahl aufzuwärmen. Ich wundere mich, wo er das Essen auftreibt, wie er es in unser Viertel bringt, das nun einem Schlachtfeld gleichen muss. Wenn ich ihn frage, bekomme ich keine Antwort. Manchmal gebe ich ihm ein paar Münzen aus dem Samtbeutel, den ich wie einen Schatz bei mir trage und der alles enthält, was ich besitze.
    Gilberts Hände sind schmutzig, aber außergewöhnlich elegant, mit langen schlanken Fingern wie die eines Pianisten. Er spricht nie über sich selbst, über seine Vergangenheit und wie es ihn auf die Straße verschlug. Ich habe keine Ahnung, wie alt er ist. Gott allein weiß, wo er schläft und wie lange er nun schon so lebt. Ich traf ihn vor fünf, sechs Jahren. Ich glaube, er wohnt beim Wall von Montparnasse; Lumpensammler leben dort in einem Niemandsland aus windschiefen Hütten, sie gehen täglich durch den Jardin du Luxembourg zum Markt von Saint-Sulpice.
    Mir fiel er auf wegen seiner Größe und seines komischen Zylinderhuts, den offensichtlich ein vornehmer Herr weggeworfen hatte – ein zerdrücktes, löchriges Etwas, das auf seiner Scheitelkrone saß wie eine verletzte Fledermaus. Er hatte seine große Hand nach einem Sou ausgestreckt, schenkte mir ein zahnloses Lächeln und ein Strahlen aus seinen grünen Augen. Er hatte etwas Freundliches, Respektvolles an sich, was mich überraschte, denn diese Kerle können ruppig und rüde sein, wie Du weißt. Seine höfliche Güte sprach mich an. Also gab ich ihm ein paar Münzen und ging nach Hause.
    Am nächsten Tag, siehe da!, war er in meiner Straße am Brunnen. Er musste mir gefolgt sein. Er hatte eine rote Nelke in der Hand, die wahrscheinlich aus irgendeinem
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