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Das Haus der Madame Rose

Das Haus der Madame Rose

Titel: Das Haus der Madame Rose
Autoren: Tatiana de Rosnay
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verschwand Monsieur Vincent aus unserem Viertel. Seitdem habe ich keine Nacht mehr gut geschlafen.

Heute Morgen kam Gilbert mit frischem, warmem Brot und ein paar gebratenen Hühnerflügeln. Beim Essen sieht er mich ständig an. Ich frage ihn, was los sei.
    »Sie kommen«, sagt er schließlich. »Die Kälte ist vorbei.«
    Ich sage nichts.
    »Es ist immer noch Zeit«, flüstert er.
    »Nein«, sage ich entschlossen und wische mir mit der Hand das Fett vom Kinn.
    »Wie Sie wollen.«
    Schwerfällig steht er auf und streckt die Hand aus.
    »Was haben Sie vor?«, frage ich.
    »Ich werde nicht hierbleiben und mir das mit ansehen«, murmelt er.
    Bestürzt sehe ich, wie Tränen seine Augen füllen. Ich weiß nicht, was ich sagen soll. Er zieht mich an sich, schlingt seine Arme um meine Schultern wie zwei riesige knorrige Äste. Aus der Nähe ist sein Gestank überwältigend. Dann weicht er verlegen einen Schritt zurück. Er wühlt in seiner Hosentasche und reicht mir eine verwelkte Blume. Es ist eine kleine zartgelbe Rose.
    »Sollten Sie doch noch Ihre Meinung ändern …«, hebt er an.
    Ein letzter Blick in meine Augen. Ich schüttle den Kopf.
    Und weg ist er.
    Ich bin ganz gelassen, Liebster. Ich bin bereit. Ich höre sie jetzt, das Dröhnen, die Stimmen, den Krach ihres langsamen, aber unaufhaltsamen Nahens. Ich muss Dir nun ganz schnell das Ende meiner Geschichte erzählen. Ich glaube, Du weißt es jetzt. Ich glaube, Du hast verstanden.
    Ich habe Gilberts Rose in mein Mieder gesteckt. Ich schreibe Dir mit zitternden Händen, nicht wegen der Kälte, nicht wegen der Angst vor den Arbeitern, die auf dem Weg hierher sind. Es ist das Gewicht dieses Augenblicks, das Gewicht dessen, von dem ich mich nun endlich befreien muss.

Unser Junge war noch ganz klein , er konnte noch nicht laufen. Mit seinem Kindermädchen (ein süßes, sanftes Persönchen, ich erinnere mich jedoch nicht mehr an seinen Namen) waren wir im Jardin du Luxembourg beim Medici-Brunnen. Es war ein schöner, windiger Frühlingstag, der Park war voller Kinder, Mütter, Vögel und Blumen. Du warst nicht dabei, das weiß ich sicher. Ich trug einen hübschen Hut, dessen blaues Band immer wieder aufging und in der frischen Brise hinter mir herflatterte. Ach, wie hat Baptiste gelacht!
    Als der Wind mir dann den Hut ganz vom Kopf fegte, frohlockte er richtiggehend, ein breites Lächeln umspielte seine Lippen. Und dann, ganz flüchtig, sah ich etwas in seinem Gesicht … Sein Mund war zu einem breiten Grinsen verzogen, das ich schon einmal gesehen hatte und das ich nicht aus meinem Gedächtnis löschen konnte. Ein scheußliches Grinsen. Dieser schreckliche Anblick versetzte mir einen Stich wie ein Dolch. Ich fuhr mit der Hand an meine Brust und unterdrückte einen Schrei. Besorgt fragte das junge Mädchen, ob alles in Ordnung sei. Ich beruhigte mich wieder. Mein Hut war fortgeflogen und hüpfte über den staubigen Weg wie ein Tier. Baptiste deutete wimmernd darauf. Ich fand meine Fassung wieder und eilte hin, um ihn zu holen. Doch mein Herz pochte wie wild.
    Dieses Lächeln. Dieses Grinsen. Mir kam an Ort und Stelle das Mittagessen wieder hoch, ich erbrach mich. Ich weiß nicht mehr, wie ich es nach Hause schaffte. Das Mädchen half mir. Ich erinnere mich, dass ich umgehend in unser Schlafzimmer lief und den restlichen Tag bei zugezogenen Vorhängen im Bett verbrachte.
    Lange Zeit fühlte ich mich gefangen in einer Zelle ohne Fenster und Türen. Ich fand keinen Weg hinaus. Der Raum war dunkel und erdrückend. Stundenlang suchte ich die Tür, ich war überzeugt, sie sei irgendwo im Tapetenmuster verborgen, ich strich mit Handflächen und Fingern über die Wände und suchte verzweifelt nach dem Spalt. Das war kein Traum. Das war mein Geisteszustand, das stand mir immer im Sinn, während ich meinen täglichen Verrichtungen nachging, während ich mich um die Kinder kümmerte, den Haushalt, um Dich. Wieder und wieder drückte mir die Zelle ohne Ausgang auf die Seele. Manchmal musste ich mich in der kleinen Kammer neben unserem Schlafzimmer verkriechen, damit ich wieder normal atmen konnte.
    Ich vermied es immer, im Salon auf genau die Stelle zu treten, wo es passiert war, nicht weit von dem Sessel entfernt, in dem Maman Odette ihren letzten Atemzug getan hatte. Nach und nach gelang es mir, die Erinnerung an das, was sich in diesem Raum abgespielt hatte, auszulöschen. Es dauerte Monate, es dauerte Jahre. Meine abgöttische Liebe zu meinem Sohn und meine tiefe Liebe zu Dir
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