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Das große Leuchten (German Edition)

Das große Leuchten (German Edition)

Titel: Das große Leuchten (German Edition)
Autoren: Andreas Stichmann
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daran denke. Ich sehe eine Kette von kleinen Därmen auf der Mauer langschweben – der Reihe nach dem Fasanendarm hinterher.
    Wusstest du, dass es im Iran Polizisten gibt, die MÄDCHENDAUMEN sammeln? Also, wenn ich eines Tages zu meiner Mutter fliege, werde ich mir auf jeden Fall einen Stromschocker oder so was kaufen. Oder du beschützt mich, aber dann musst du erst noch ins FITNESSSTUDIO gehen. Oder meinst du, du kannst es mit daumensammelnden Polizisten aufnehmen? Wohl kaum!
    Sie hat es einfach so dahingeredet. Wahrscheinlich ohne Gefühl dafür, wie gefährlich oder ungefährlich es ist, wie ihre Mutter hier überhaupt lebt.

    Auf der anderen Seite des Daches steht Robert und lächelt mir zu, einen dünnen Wasserschlauch in der Hand. Er ist in Badehosen und führt seine Waschung durch, dieses meditative Ritual, bei dem ich ihm als Kind immer gern zugesehen habe. Er duscht nie, ich weiß nicht, warum: Er wäscht jeden Körperteil einzeln, als wollte er eine Inventur seines Körpers aufnehmen. Es beruhigt ihn wahrscheinlich, das zu tun. Seift sich da ganz konzentriert das rechte Bein ein und spült es ab, dann das andere Bein, den Bauch, die Arme. Sein Körper ist sehr filigran, als hätte sich ein Bildhauer reingesteigert, bis die Skulptur noch feiner geworden ist, als ein Körper es eigentlich sein kann. Als er fertig ist, trocknet er sich gründlich ab und zieht sich an, sieht einen Moment nach oben, als suchte er seinen Heimatplaneten. Dann nickt er mir sanft zu und steigt wieder nach unten.
    Ganz selbstverständlich. Unter diesem Teheraner Himmel.
    Den es allerdings gar nicht gibt, weil er sich ja nur in Anas Kopf befindet – zumindest hat sie sich mal eine Zeitlang in diesen Gedanken reingesteigert, nachdem sie irgendein Reclam-Heft gelesen hatte.
    Wusstest du nicht, dass das die einzige vollkommen WASSERDICHTE Philosophie ist, die es gibt? Ist doch klar, dass sich alles immer nur in MIR befindet. Ich bin SOLIPSISTIN, es hat noch nie jemand ein Argument dagegen gefunden. Weil es STIMMT. Du läufst immer durch dein eigenes Gehirn, beziehungsweise durch meins, weil es dich ansonsten gar nicht GIBT.
    Aber wo bist du dann jetzt, denke ich. Wie kannst du dann so abwesend sein im eigenen Hirn.

    Neben mir befindet sich ein kleiner Holzverschlag. Darin zwei Pappkartons mit weiteren Fotos. Abu hat gesagt, sein Vater habe früher Fotograf werden wollen und alles und jeden fotografiert. Ich solle mal sehen, ob ich da noch was finde.
    Es sind Unmengen, meine Arme verschwinden bis zu den Ellenbogen darin. Ein langsam vergärendes Archiv. Ich versuche, systematisch vorzugehen, irgendwelche Zusammenhänge zu erkennen, Einzelpersonen sind kaum zu sehen, das fällt auf, meistens drängen sich ganze Mannschaften ins Bild: Tanten, Onkel, Neffen und Cousinen. Ich finde etwa zwanzigmal das gleiche Hochzeitsfoto von Abus Eltern: Sie stehen nebeneinander und lächeln extrem verkniffen, eine starre Pose, vielleicht das Startbild einer arrangierten Ehe, jedenfalls sieht es so aus. Aber was ich suche, sind Gesichter, die neben Ana oder ihren Eltern zu sehen sind – weitere Menschen, die Abu erkennt und die man befragen könnte.
    Ich sehe: Mutter Merizadi mit Abu im Arm. Diesmal schon zufriedener lächelnd. Eine Gruppe von etwa dreißig Frauen mit schreiend bunten Kopftüchern auf einer Wiese. Ein verschwommenes Puzzle, etliche Jahrzehnte Familie. Zwischendurch ein halber Fuß in Großaufnahme.
    Von der Straße kommen Stimmen, ich gehe aus dem Verschlag und sehe nach: Großfamilien, schon wieder, Menschen ohne Ende. Grillende Grüppchen, ein paar Tee- und Fruchtsaftstände, eine Festivalatmosphäre in der ersten kühlen Luft nach der Hitze des Tages. Die Straße scheint aus ineinander übergehenden Sippen zu bestehen, alle rufen hin und her, ein einschläfernder Stimmteppich liegt in der Luft.
    Aber warum hörst du das jetzt nicht, denke ich, warum sind wir beide nicht auch da unten. Als junges Ehepaar vielleicht, als Teil dieser Sippen. Warum stehe ich hier alleine mit diesem Klang im Kopf, wenn doch alles in deinem Kopf ist.

    «Liebst du sie?», fragt später eine Stimme im Dunkeln.
    Wir liegen auf dünnen Matratzen, die ganze Familie im selben Raum. Die Mutter schnarcht, der Vater liegt still daneben, Robert in der Ecke pfeift leise durch die Nase. Nur Abu ist wieder wach geworden, und ich bin sowieso noch wach, zumindest mit einer Hälfte meines Gehirns. Es ist kühler geworden, weit entfernt rauscht der Verkehr, ab und zu
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