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Das Graveyard Buch

Titel: Das Graveyard Buch
Autoren: Neil Gaiman
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»Aber die Frage ist doch, was machen wir mit ihm?«
    »Das ist in der Tat die Frage, gnädige Frau«, sagte ihr Gatte. »Aber es ist nicht unsere Frage, denn dieses Baby leibt und lebt und hat folglich nichts mit uns und unserer Welt zu tun.«
    »Schau doch nur, wie es lächelt!«, sagte Mrs Owens. »So ein süßes Lächeln.« Und mit Geisterhand strich sie ihm über das spärliche blonde Haar. Der kleine Junge kicherte vor Freude.
    Eine kühle Brise ging durch den Friedhof und ze r teilte den Nebel hügelab (denn der Friedhof dehnte sich über die ganze Anhöhe und seine schmalen Wege zogen sich den ganzen Hang hinauf und wieder hi n unter). Plötzlich rasselte es. Jemand musste am Gitter der Eingangspforte mit dem Vorhängeschloss und der Kette rütteln.
    »Das ist bestimmt jemand von der Familie des B a bys«, sagte Owens. »Man holt es in den Schoß der F a milie z u rück. Lass den Kleinen jetzt«, ermahnte er seine Frau, die ihre Geisterarme um den kleinen Jungen g e schmiegt ha t te.
    »Der Kleine sieht aber nicht so aus, als hätte er eine Familie«, entgegnete Mrs Owens. Unterdessen ha t te der Mann im dunklen Mantel aufgehört, an der Hauptpforte zu rütteln, und sah sich nun die schmale Seitenpforte an. Aber auch die war mit einem Schloss versehen. Im v o rangegangenen Jahr waren Gräber mutwillig geschändet worden, worauf die Stadtverwaltung Sicherheitsma ß nahmen verfügt hatte.
    »Bitte, gnädige Frau, lass ihn nun, sei so gut«, drängte Mr Owens, als er plötzlich eine Erscheinung sah. Der Mund ging ihm auf, aber ihm fehlten die Worte.
    Man könnte meinen, Mr Owens hätte nicht so viel Aufhebens um eine Erscheinung zu machen bra u chen, da er und seine Frau doch ebenfalls seit mehreren Hundert Ja h ren tot waren und ihr gesellschaftlicher Umgang fast ausschließlich aus Toten bestand. Doch gab es einen U n terschied zwischen dem Friedhofsvolk und dieser E r scheinung hier: eine schemenhafte Gestalt, grau wie Bildschirmgeflimmer, voll p a nischer Angst, die sich sogleich auch auf die Owens übertrug. Eigentlich waren es drei Ge s talten, zwei größere und eine kleinere, aber nur eine von ihnen war mehr als ein fahler Schatten, und diese Ge s talt sagte: Mein Junge! Er will meinem Jungen etwas z u leide tun!
    Ein Scheppern. Der Mann draußen vor der Pforte schleppte einen schweren Abfalleimer von der Straße herüber zu der hohen Ziegelmauer, die diese Seite des Friedhofs umschloss.
    »Beschützt meinen Sohn!«, sagte der Geist und Mrs Owens glaubte, dass es eine Frau war. Sicherlich die Mutter des kleinen Jungen.
    »Was hat er Ihnen getan?«, fragte Mrs Owens, aber sie war sich nicht sicher, ob die Erscheinung sie verstand. Die Arme ist erst vor Kurzem gestorben, dachte sie. Um wie viel besser war doch ein sanfter Tod, eine Zeit des Übe r gangs an der Stätte des B e gräbnisses, damit man sich in den eigenen Tod finden und mit den anderen B e wohnern Bekanntschaft schließen konnte. Aus dieser geisterhaften Gestalt d a gegen sprach nur Entsetzen und Angst um ihr Kind. Ihr leiser Schrei, den das Ehepaar Owens vernahm, erregte allgemeine Aufmerksamkeit, denn nun kamen von überall her andere Friedhofsb e wohner herbei.
    »Wer sind Sie«, fragte Caius Pompeius die Ersche i nung. Sein Grabstein war nur noch ein verwitterter Fel s brocken. Vor zweitausend Jahren hatte er sich g e wünscht, dass seine sterblichen Überreste nicht ins ferne Rom überführt, sondern hier auf der Anhöhe neben dem Marmorheiligtum zur letzten Ruhe gebe t tet wurden. Er war somit der älteste Friedhofsinsasse und diese Veran t wortung nahm er sehr ernst. »Sind Sie hier bestattet?«
    »Selbstverständlich nicht! Ganz offensichtlich ist sie erst seit Kurzem tot.« Mrs Owens legte den Arm um die weibliche Erscheinung und sprach in sanftem, begüt i gendem Ton auf sie ein.
    Von der hohen Mauer an der Straßenseite war ein dumpfes Krachen zu hören. Die Mülltonne war umgefa l len. Im milchigen Licht der Laterne kletterte ein Mann auf die Mauer. Er hielt einen Augenblick inne, dann glitt er, sich an der Mauerkrone festhaltend, mit baumelnden Beinen auf der anderen Seite hinab und ließ sich schlie ß lich auf den Friedhofsboden fallen.
    »Aber machen Sie sich das klar«, sagte Mrs Owens zu der Erscheinung. »Er lebt, wir nicht. Kannst du dir vo r stellen …?«
    Das Kind blickte verwirrt zu ihnen hinauf. Es streckte die Hand erst nach der einen, dann nach der anderen Ge s talt aus, doch er griff ins Leere. Die E r scheinung,
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