Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Das goldene Ufer

Das goldene Ufer

Titel: Das goldene Ufer
Autoren: Iny Lorentz
Vom Netzwerk:
nachgedacht hatte. Er sah einige altgediente Soldaten den Kopf schütteln und begriff selbst, dass dies nicht in seiner Macht stand.
    Daher trat er zu Graf Renitz und nahm vor ihm Haltung an. »Herr Oberst, erlaubt mir zu sprechen.«
    »Gewährt!«, antwortete der Graf.
    »Ihr habt mir vorhin gesagt, Ihr werdet es mir nicht vergessen, dass ich heute den Franzosen erschossen habe, der Euch niederstechen wollte. Nun möchte ich Euch bitten, dass Ihr stattdessen Gisela helft. Ich komme schon irgendwie durch.«
    Renitz war sichtlich überrascht, und unter den Soldaten erhob sich Gemurmel. Dann erklangen einige zustimmende Ausrufe, und der Wachtmeister seiner Kompanie klopfte Walther auf die Schulter. »Bist ein braver Junge! Wirst es noch weit bringen im Leben.«
    »Deine Bitte ist edel, Walther Fichtner. Ich werde zusehen, was ich für das Mädchen tun kann«, erklärte der Oberst nach kurzem Nachdenken.
    »Ich danke Euch, Herr Oberst.«
    »Ich Euch auch«, flüsterte Giselas Mutter mit letzter Kraft. »Ich bitte Euch nur noch um eines: Zwingt mein Kind nicht, ihrem katholischen Glauben abzuschwören und lutherisch zu werden.«
    Um Renitz’ Mund erschien ein abweisender Zug. Auf seinem Besitz gab es keinen einzigen Katholiken, und man musste schon bis in die nächste größere Stadt fahren, um einen papistischen Priester zu finden. Da er es jedoch nicht wagte, die Bitte einer Sterbenden abzuschlagen, nickte er.
    »Es wird so geschehen, wie du es willst, Wachtmeisterin. Ich werde dafür Sorge tragen, dass deine Tochter nach den Lehren der katholischen Kirche erzogen wird.«
    »Ich danke Euch!« Es waren die letzten Worte, welche Walburga Fürnagl über die Lippen kamen. Als ihre Tochter sich über sie beugte, blickte sie in das Gesicht einer Toten.

6.
    D ie Schlacht von Waterloo war geschlagen. Wie blutig sie gewesen war, wurde den Beteiligten erst im Lauf des nächsten Tages bewusst. Hatten Renitz’ Soldaten bisher geglaubt, den höchsten Blutzoll gezahlt zu haben, wurden sie bald eines Besseren belehrt. Kaum hatte der Morgennebel sich gelichtet, sahen sie das Land bedeckt von starren Gestalten in roten und blauen Uniformröcken. Dort, wo die Schlacht am härtesten getobt hatte, bei den Gehöften von La Haye Sainte und Hougoumont, lagen die Leichen zu Haufen übereinandergestapelt. Selbst die Plünderer, die in der Nacht die Toten wie die Verwundeten ausgeraubt hatten, waren nicht in der Lage gewesen, diese Leichenhügel abzutragen.
    Für Walther war der Anblick ein Schock. Niemals hätte er sich vorstellen können, dass Krieg so schrecklich sein könnte. Doch hier hatten sich zwei Heere Stunden um Stunden ineinander verkrallt, bis die preußischen Regimenter im Rücken der Franzosen aufgetaucht waren und die Entscheidung herbeigeführt hatten.
    Soldaten und Trossknechte machten sich daran, die Leichen einzusammeln und in Massengräbern zu bestatten. Auch die toten Pferde wurden beiseitegeschleppt. Bei vielen fehlten bereits große Stücke Fleisch, die den Weg zu den Kochfeuern einzelner Truppenteile gefunden hatten. Als Walther zum Regiment zurückkehrte, erhielt auch er ein Stück gebratenes Pferdefleisch und musste sich trotz seines Hungers zwingen, es zu essen.
    Gisela kniete betend neben den Gräbern, in denen die Männer der ersten Kompanie den Wachtmeister Josef Fürnagl und seine Frau zur ewigen Ruhe gebettet hatten. Als Walther zu ihr trat und ihr etwas Fleisch reichen wollte, schüttelte sie den Kopf.
    »Ich wollte, ich wäre tot und bei ihnen im Himmel!«
    »So etwas darfst du nicht sagen. Das Leben geht weiter, auch wenn man allein auf der Welt ist und es einem schier das Herz abdrückt.«
    »Entschuldige, ich vergaß! Du hast ja auch deine Eltern verloren!«
    Mitleid färbte Giselas Stimme, und unwillkürlich ärgerte Walther sich drüber. »Meinen Vater habe ich kaum gekannt. Er war bereits Soldat, als ich zur Welt kam, und hat bis zu seinem Tod nur wenige Wochen zu Hause verbracht. Als ich hörte, er sei gefallen, war mir fast, als würde man über einen Fremden sprechen. Schlimm wurde es erst, als Mutter starb. Sie war alles, was ich hatte.«
    »Da ging es mir besser, denn ich war immer mit meinen Eltern zusammen bei einem Heer. Es ist so entsetzlich, dass ich beide am gleichen Tag verlieren musste!« Wieder kamen Gisela die Tränen, und sie verwandelte sich in ein schluchzendes Bündel Elend.
    Walther spürte, dass Worte ihr keinen Trost spenden konnten. Daher begnügte er sich damit, stumm neben ihr
Vom Netzwerk:

Weitere Kostenlose Bücher