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Das Glücksbüro

Das Glücksbüro

Titel: Das Glücksbüro
Autoren: Andreas Izquierdo
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Musik nur die hörten, die ihre Noten lesen konnten. Jeder Antrag hatte eine Melodie, einige waren dramatisch, andere munter oder traurig, wieder andere beinahe so etwas wie romantisch. Man musste sie nur in die Hand nehmen und ansehen und schon hörte man es. Einfach wunderbar, auch wenn man von Musik überhaupt keine Ahnung hatte. Was machte das schon? Die Seele verstand.
    Mittlerweile hatte Albert auch einen alten Locher auf den Schreibtisch gestellt, mit dem er zwei kreisrunde Löchlein in einen Antrag stanzte, als sein Blick auf seine Armbanduhr fiel. Nur noch wenige Sekunden bis zwölf Uhr Mittag.
    Erschrocken sprang er auf und murmelte: »Oh! Jetzt aber schnell.«
    Ein Schauspiel stand an, das Albert liebte und niemals verpasste: der große Hungerlauf! Er eilte aus seinem Büro, stellte sich an das Ende des Ganges und sah auf seine Uhr: Punkt zwölf Uhr flogen fast alle Bürotüren auf und Männer wie Frauen stürmten hinaus und riefen gestikulierend: MAHLZEIT !
    Das Getrappel und Getöse war ohrenbetäubend, die aufgeregten Stimmen, die immer schneller werdenden Schritte, die unauffälligen Überholvorgänge noch vor dem Treppenhaus oder den Aufzügen. Niemand wollte in der Kantine ganz hinten in der Schlange stehen.
    Albert war entzückt.
    Der große Hungerlauf begeisterte ihn jeden Tag aufs Neue, denn er war auf wundersame Art und Weise immer gleich und letztlich waren es auch immer dieselben, die ihn gewannen. Da er aber der Einzige war, der wusste, dass es ihn überhaupt gab, fühlte er sich privilegiert und verzichtete deswegen gerne auf eine vordere Platzierung an der Essensausgabe. Wie konnte man nur nach so banalen Dingen wie dem Gewinn eines Hungerlaufs streben, wenn sich vor den eigenen Augen das Leben in seiner ganzen Schönheit entfaltete?
    Die Kantine war randvoll, die Schlange vor der Essensausgabe ziemlich lang und Albert so ziemlich der Letzte in der Reihe. Er sehnte sich nach den stillen Stunden am Abend, denn große Menschenmengen ängstigten ihn, es war, als würden sich die einzelnen Körper und Stimmen zu einer gewaltigen Lawine vereinigen und ihn unter sich begraben. Der Lärm und die Enge töteten jeden seiner Gedanken ab, außer dem einen, allem zu entkommen und sich in der Stille wieder selbst zu spüren.
    Er setzte sich, wie jeden Mittag, an seinen Platz, gleich neben Elisabeth Seel und Mike Schulze. Schon von Weitem konnte er an Mikes Miene erkennen, was das Thema des Tischgesprächs sein würde, und kaum hatte er Platz genommen, polterte Mike auch schon los.
    »Mann, wie kann man bloß so einen Aufstand machen? Ist doch nicht so, dass ich den Job nicht gemacht hätte!«
    »Hast du deinen Schreibtischschlüssel gefunden?«, fragte Elisabeth.
    Mike lehnte sich zurück und winkte ab: »Nein, und das werde ich auch nicht.«
    Sie sah ihn erstaunt an: »Wie meinst du das?«
    Mike blickte verstohlen um sich, als ob er fürchtete, jemand könne ihr Gespräch belauschen, und raunte dann: »Wir haben einen Wolf im Amt.«
    Den Überraschungseffekt hatte Mike auf seiner Seite, denn weder Albert noch Elisabeth hatten auch nur einen Schimmer, wovon er eigentlich sprach.
    »Was soll das sein?«, fragte Albert.
    Mike kniff verschwörerisch ein Auge zu und sagte dann im Brustton der Überzeugung: »Das sind Menschen, die in den Räumen anderer leben, wenn diese zur Arbeit fahren.«
    »Kein Wunder, dass er sich in Ihrem Büro aufhält.«
    »Albert!«, lachte Elisabeth.
    Mike fuhr völlig ungerührt fort: »Sie sind da. Überall. Und man kann sie nicht erwischen. Es sind ihre Instinkte. Sie wissen immer, wann du zurückkommst.«
    »Und was machen sie so den ganzen Tag?«, fragte Albert.
    Mike nickte: »Sie nehmen an deinem Leben teil. Sie benutzen die Dinge, die du auch benutzt: Fernseher, Zahnbürste, Fotoalbum. Ganz egal. Sie brauchen dich, um zu leben, weil sie kein anderes Leben haben.«
    Albert verzog skeptisch den Mund: »Das würde man doch merken.«
    Mike schüttelte den Kopf: »Nein, sie verlassen die Räume, wie sie sie vorgefunden haben. Nur manchmal erlauben sie sich einen kleinen Hinweis: ein Buch, das schief im Regal steht. Eine Socke, die verloren gegangen ist. Ein Schlüssel, der scheinbar verlegt wurde. So Sachen.«
    »Und so einer ist hier im Amt?«, fragte Albert vorsichtig.
    »Ja.«
    »Und hat den Schlüssel Ihrer Schreibtischschublade gestohlen …«
    »Sie können sich ruhig darüber lustig machen, aber in diesem Amt lebt ein Wolf. Ganz sicher!«
    »Warum sagen Sie das nicht
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