Das Gesetz der Vampire
für das mit Teerpappe gedeckte Dach die perfekte optische Tarnung und überdeckte zusätzlich seinen menschlichen Geruch. Vampire besaßen einen ausgezeichneten Geruchssinn, der wahrscheinlich sogar noch besser war als der eines Hundes. Wenn Cronos den Geruch eines Menschen auf dem Dach wahrnahm, wo er eigentlich nichts zu suchen hatte, mochte er gewarnt sein.
Die Sonne ging unter, und die Dunkelheit fiel schnell über das Land. Es konnte nur noch wenige Augenblicke dauern. Ashton zwang sich erneut zur Ruhe.
Ein huschender Schatten war das Einzige, was die Ankunft des Vampirs ankündigte. Im nächsten Moment stand Vincent Cronos auf dem Balkon vor Rebecca Morris, die ihn mit einem glücklichen Lächeln in die Arme schloss, sich an ihn schmiegte und ihn leidenschaftlich küsste, als wäre er ein Mensch.
Ashton spürte erneut Ekel in sich aufsteigen bei dem Anblick, der zu der ungebetenen Vorstellung führte, dass seine Mary den Vampir damals ebenso leidenschaftlich empfangen hatte. Er schob diesen Gedanken gewaltsam beiseite und konzentrierte sich auf den Feind. Solange dieser Ashton den Rücken zuwandte, konnte er nicht schießen. Sowohl die Armbrust wie auch die Government hatten auf diese relativ kurze Entfernung von nur dreißig Metern Luftlinie eine so große Durchschlagskraft, dass er Rebecca Morris durch Cronos’ Körper hindurch ebenfalls getroffen hätte. Unschuldige Opfer mussten jedoch unter allen Umständen geschützt werden. Deshalb zügelte Ashton sein brennendes Verlangen, Cronos unverzüglich ohne Rücksicht auf Kollateralschäden zu töten und wartete geduldig.
Langsam wandte der Vampir sich jetzt zur Seite, ohne Rebecca aus seiner Umarmung zu lassen.
Ashton hob die Armbrust und nahm Cronos’ Kopf ins Visier. Sein Finger lag leicht auf dem Abzug, und er atmete ruhig. Der Vampir musste seinen Kopf nur noch wenige Zentimeter zur Seite drehen oder anderweitig von Rebecca Morris weg bewegen, und Ashton hätte freies Schussfeld. Nur noch wenige Zentimeter …
Cronos löste seine Lippen von Rebeccas und sah ihr lächelnd in die Augen, wohl um seine hypnotischen Fähigkeiten anzuwenden. Ashton ließ es nicht soweit kommen. Er drückte ab und ließ den Holzpfeil fliegen, während seine Lippen ein lautloses Gebet formten.
Der Vampir hörte zwar das Geräusch des fliegenden Pfeils und wandte den Kopf in die Richtung, aus der es kam, aber er reagierte dennoch zu spät. Das Geschoss traf ihn voll in die Stirn. Die Wirkung war unglaublich. Der Pfeil drang ihm ins Gehirn und blieb dort stecken, nachdem seine Spitze am Hinterkopf wieder ausgetreten war. Vincent Cronos erstarrte mitten in der Bewegung, verharrte reglos für zwei Sekunden, die Ashton endlos vorkamen, ehe sein Körper sich in Sekundenschnelle auflöste und er als Häuflein Staub in sich zusammenfiel.
Ashton starrte den grauen Staubhaufen inmitten der jetzt leeren Kleidung an und vermochte es kaum fassen, dass alles so glatt gegangen und Vincent Cronos wirklich und wahrhaftig tot war – endgültig vernichtet. Mary war nach zehn quälend langen Jahren gerächt. Und Ashton konnte nun endlich seinen Frieden finden.
Rebeccas hysterisches Schreien riss ihn aus seiner Erstarrung. Er hastete über die Feuerleiter vom Dach, rannte zum gegenüberliegenden Haus und gelangte über die dortige Feuerleiter auf Rebeccas Balkon. Sie sah ihn entsetzt und verständnislos an. Er riss sie schützend in die Arme und drückte sie an sich.
»Ist ja schon gut«, versuchte er sie zu beruhigen. »Es ist vorbei. Alles wird wieder gut. Er ist tot und wird Ihnen nie wieder etwas antun können.«
Doch sein Beruhigungsversuch hatte den gegenteiligen Effekt. Rebecca stieß ihn von sich und schlug ihm mit aller Kraft ins Gesicht. Ashtons Lippe platzte auf, und er schmeckte Blut.
»Mörder!«, schrie sie ihn hasserfüllt an. »Verfluchter Mörder!«
Sie drosch weiter auf ihn ein, und Ashton war zu verblüfft, um mehr zu tun, als sein Gesicht und seinen Körper mit den Armen vor ihren Schlägen zu schützen. Schließlich brach sie schluchzend in die Knie und blieb weinend am Boden hocken. Ashton versuchte nicht wieder, sich ihr zu nähern.
»Ich verstehe Sie«, sagte er so ruhig wie möglich und behielt dabei Cronos’ Überreste aus den Augenwinkeln im Blick, als fürchte er, dass der Staub sich wieder zum lebendigen Vampir zusammenfügen könnte. Rebecca robbte von ihm weg durch die Balkontür nach drinnen in eine Ecke des Zimmers, wo sie die Arme um die Knie schlang
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