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Das Geheimnis des Walfischknochens - Roman

Das Geheimnis des Walfischknochens - Roman

Titel: Das Geheimnis des Walfischknochens - Roman
Autoren: Tanja Heitmann
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Haarschnitt! Mensch, Greta, du siehst aus wie ein gerupftes Huhn. Nur mal so nebenbei erwähnt, dieser Selbstfindungstrip und das ganze aufgesetzte Autonomiebewusstsein liegen schon Jahrzehnte zurück. Heute gehen sogar Leute von deinem Schlag zum Friseur, egal für was für Mordsindividualisten sie sich halten«, schimpfte Wencke weiter, unbeeindruckt von der Tatsache, dass ihre Schwester sich einem weiteren Stück Kuchen widmete, anstatt auf ihre Anschuldigungen einzugehen. So leicht würde sie nicht aufgeben, auf dem Gebiet legte Wencke eine erstaunliche Ausdauer an den Tag. »Kein Wunder, dass Erik wenig Lust hatte, mit dir zusammen aufzuschlagen«, setzte sie kühl nach.
    »Jetzt mach aber mal einen Punkt«, unterbrach Anette die Anklagerede. Sie war dazu übergegangen, die Folie von den belegten Broten zu ziehen, denn nach dem Kuchen und Likör würde die Gesellschaft unbedingt etwas Anständiges im Magen brauchen. »Deine Schwester hat sich schrecklich mit Erik gestritten und braucht Trost. Heb dir deine Vorhaltungen also für später auf, ja?«
    Wencke spitzte die Lippen. »Ach, so ist das also: Unser Vorzeigepaar hat sich in die Haare bekommen. Allem Anschein nach wortwörtlich, wenn ich mir deinen Restschopf so anschaue. Und warum hast du Till überhaupt erzählt, dass Erik aus beruflichen Gründen nicht mitgekommen ist?«
    »Das habe ich nicht erzählt, das muss Till vermutet haben«, erklärte Greta wahrheitsgemäß. »Genau wie du zieht er lieber seine eigenen Schlüsse, anstatt einfach mal zuzuhören.«
    »Ach, jetzt ist das also meine Schuld! Wenn das so ist, dann gehe ich jetzt mal zurück zu den Gästen und ziehe dort meine eigenen Schlüsse über dieses unerwartete Liebesende.« Wencke schnappte sich eine Schale mit eingelegten Gurken und verließ die Küche.
    Mit einem Schlag schien es wieder sehr viel mehr Raum zu geben. Dafür, dass Gretas Schwester ihr oft und gern vorhielt, sie würde nach Aufmerksamkeit lechzen, verwandelte sie jede Begrüßung in einen Auftritt samt dramatischem Auf- und Abgang.
    Entgegen Anettes sonstiger Art, alles schönzureden, kräuselte sie jetzt die Stirn. »Du weißt schon, dass Wencke eigentlich nicht so ist, oder? Normalerweise ist sie ganz verträglich, aber irgendwas an dir treibt sie zur Weißglut. Als müsse sie dann um jeden Preis beweisen, dass sich ihr Leben locker mit deinem messen kann, auch wenn es ganz anders ist.«
    Greta nickte nachdenklich. Dass Wencke sich an ihren Gegensätzen rieb, war ihr auch schon aufgefallen, obwohl sie die Wurzel des Problems nicht begriff. Ihre Schwester hatte sich schließlich bewusst für Meresund entschieden, als sie nach ihrer Bankausbildung Till Fröben geheiratet hatte und schon kurze Zeit später schwanger geworden war. Dieser Lebensweg mit Familie, Haus und Garten in einer Kleinstadt war zwar nicht außergewöhnlich, aber deshalb noch lange kein Grund, sich angreifbar zu fühlen. Und schon gar nicht gegenüber ihrer jüngeren Schwester, die mehr denn je das Gefühl hatte, weder angekommen zu sein, noch zu wissen, wohin sie eigentlich gehörte.

3
    Die Begrüßung der Gästeschar im Wohnzimmer überstand Greta ohne weitere Fragen oder Anspielungen auf den abwesenden Erik. Das lag gewiss an dem Tablett, das sie vor sich hertrug und dessen belegte Brote jeden milde stimmten, der auf sie zutrat. Die Nachbarn und Freunde der Familie, die sie von klein auf kannten, freuten sich, sie endlich wieder einmal zu sehen. Bei ihrem Rundgang durch Wohn- und Esszimmer wurde Greta bewusst, wie sehr sie Meresund vermisst hatte. All die vertrauten Gesichter, die während ihrer Abwesenheit reifer, kantiger, fülliger und faltiger geworden waren, ohne dass sie diesen Prozess begleitet hatte … Und was war ihr von diesen Jahren geblieben? Ein Abschluss in Umweltwissenschaften und ein Mietwagen voller Habseligkeiten. Und darauf sollte Wencke ernsthaft neidisch sein? Wohl kaum.
    »So, Mädchen, du trinkst jetzt erst mal einen ordentlichen Kirschlikör, damit du einen Tupfer Farbe auf die Wangen bekommst.« Über den Rand des Glases, das ihr der alte Wilke reichte, rannen rote Tropfen.
    Greta zögerte, denn seit dem zweiten Glas Sekt rumorte es in ihrem Bauch. Dann warf sie ihre Bedenken über Bord. Zu einer ordentlichen Feier gehörte es schließlich, angeheitert zu sein – selbst auf die Gefahr hin, die Fassung zu verlieren und einem von Arjens ehemaligen Patienten ihr Elend zu klagen. Im Zweifelsfall dankten einem die Leute solche
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