Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Das Geheimnis des Feuers

Das Geheimnis des Feuers

Titel: Das Geheimnis des Feuers
Autoren: Henning Mankell
Vom Netzwerk:
Trauer auf ein Stück Stoff sticken und du merkst, alles wird leichter.« Das sagte Fatima in jener Nacht zu Sofia. Und Sofia vergaß es nie. Schon am nächsten Tag begann sie zwei übrig gebliebene Stückchen Stoff zusammenzunähen. Das eine war Maria, das andere sie selbst. Sie stickte ein Muster aus verschiedenen Fäden, bis es den Namen Lydia bildete. Das bedeutete, dass sie Lydia vermisste. Sie nähte einen Weg hinein. Das bedeutete, dass sie jeden Tag darauf wartete, Lydia werde kommen und ihr sagen, Isaias sei weg und sie könnte nach Hause kommen. Von diesem Abend an wusste sie, was sie in ihrem Leben machen wollte: nähen. Und als Fatima sie immer öfter lobte und ihr immer schwerere Aufgaben übertrug, begann sie daran zu glauben, dass sie die Arbeit schaffen würde.
    Die Zeit verging. Lydia kam nicht. Jeden Abend hoffte Sofia, Doktor Raul würde an die Tür von Hermengardas Haus klopfen um zu sagen, dass Lydia im Krankenhaus nach ihr gesucht hatte. Aber er hatte nie etwas von Lydia zu erzählen. Sie kam nicht. Doktor Raul merkte, wie traurig Sofia war, und er sagte ihr, wie sehr er sich darüber freute, dass sie so gut nähen konnte. Sofia versuchte, nicht an Lydia, Alfredo und Faustino zu denken, obwohl es ihr schwer fiel. Sie hatte die beiden Stückchen Stoff, die Maria und sie selbst darstellten, mit nach Hause genommen. Wenn sie nicht einschlafen konnte, stand sie leise auf und nähte weiter im Schein der Straßenlaterne. Das half ein wenig. Alles wurde ein bisschen leichter. Aber die Sehnsucht war immer da. Warum kam Lydia nicht? Hatte sie vergessen, dass sie eine Tochter hatte, die Sofia hieß?
    Die Regenzeit zog über die Stadt. Tage- und wochenlang regnete es ununterbrochen. Die Stadt war so voll Wasser, dass die Straßen kaum noch zu erkennen waren. Aber jeden Morgen ging Sofia zu Fatima ins Haus der Vögel. Und jeden Abend kehrte sie zu Hermengarda zurück.
    Eines Abends, als es in Strömen goss, klopfte es an der Tür. Es war Doktor Raul. Sofia sprang von ihrem Stuhl auf. Endlich würde er erzählen, dass Lydia nach ihr gesucht hatte. Gespannt sah sie ihn an. Er stand mitten im Zimmer und der Regen tropfte von seinem Gesicht und aus seinen Kleidern. »Heute hat ein Mann im Krankenhaus nach dir gefragt«, sagte er. Sofia wurde es eisig kalt. Das musste Isaias gewesen sein. War er vielleicht gekommen um sie zu zwingen, nach Hause zurückzukehren? »Es war ein alter Mann«, sagte Doktor Raul. Sie sah ihn fragend an. Isaias war nicht alt. Wer könnte es gewesen sein? »Sein Name war Totio«, sagte Doktor Raul. »Und er kommt morgen wieder. Er wird dich hier besuchen.« Totio? Der eine Nähmaschine besaß? Was könnte er von ihr wollen?
    In dieser Nacht schlief Sofia schlecht. Und am nächsten Tag arbeitete sie so schlampig, dass Fatima fragte, ob sie krank sei. Aber Sofia wartete nur auf Totio. Sie konnte es kaum noch aushaken zu erfahren, was er wollte.
    Und Totio kam. Spät am Abend klopfte er an die Tür von Hermengardas Haus.

11.
    Als Sofia den alten Totio im Regen vor Hermengardas Haus stehen sah, war sie so froh, dass sie fast selbst überrascht war. Sie kannte Totio ja nur flüchtig. Trotzdem war er gekommen um sie zu besuchen. Sie versuchte an seinem alten, runzligen Gesicht abzulesen, was er wollte. Hermengarda bat ihn einzutreten und nicht draußen im Regen stehen zu bleiben. Aber Totio wollte nicht. Es war schon spät. Er wohnte bei Verwandten in einem entfernten Vorort und er hatte noch einen weiten Weg vor sich.
    »Ich wollte nur sehen, ob Sofia hier ist«, sagte er. Wenn es passte, wollte er sie gern morgen besuchen. Hermengarda erklärte ihm den Weg zu Fatimas Haus. Dann lüftete Totio seinen alten zerschlissenen Hut und verschwand in der Dunkelheit.
    »Wer war das?«, fragte Hermengarda.
    »Totio«, antwortete Sofia. »Er hat eine Nähmaschine.« Sie war fast böse auf ihn, weil er nicht gleich erzählt hatte, warum er sie treffen wollte. Die lange Reise in die Stadt würde er doch nicht machen, nur um sie zu fragen, wie es ihr ging. Es konnte auch nicht sein, dass Lydia ihn geschickt hatte. Sie kannten einander ja kaum. Sofia schlief unruhig und träumte, Totio habe sich im Regen in der Stadt verlaufen und würde nie wiederkommen.
    Als sie in der Dämmerung erwachte, regnete es immer noch. Aber wie immer hatte Hermengarda es eilig. Sie schimpfte mit Sofia, weil sie so langsam war. Sofia zog sich eine Plastiktüte übers Haar, wickelte eine alte Capulana um ihren Körper und hüpfte
Vom Netzwerk:

Weitere Kostenlose Bücher