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Das geheime Lied: Roman (German Edition)

Das geheime Lied: Roman (German Edition)

Titel: Das geheime Lied: Roman (German Edition)
Autoren: Andrés Pascual
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sagen, bei welchem der drei sie schließlich gelandet war, so betrunken hatten die Männer sie bei einem improvisierten Trinkspiel gemacht.
    Es war schon vor seiner Geburt vorherbestimmt, dass Musik in Matthieus Leben eine große Rolle spielen sollte. Während der neun Monate im Bauch seiner Mutter durfte er mit anhören, wie der Organist Marc-Antoine Charpentier, einer der wichtigsten Komponisten Frankreichs, den Tasten seines Instruments seine besten Werke entlockte. Wer wäre diesem Zauber nicht anheimgefallen? Charpentier war der Bruder des Schreibers, für den Marie arbeitete, auch wenn die beiden Männer nur wenig gemein hatten. Während der Schreiber zum konformistischen Bürgertum gehörte, lebte Charpentier in der unangepassten Welt der Musiker, in der die einzigen zu befolgenden Regeln die der Notenlehre waren. Sein Bruder wusste um die Nachlässigkeit von Genies und schickte daher jeden Tag sein junges Dienstmädchen zur Saint-Louis-Kirche, wo der Künstler probte, um sicherzugehen, dass er auch gelegentlich etwas aß.
    »Wenn Marie ihm die Bissen nicht in den Mund schieben würde, dann wäre er schon längst an seiner Orgel verhungert«, klagte der Schreiber oft.
    Als das junge Mädchen Charpentier zum ersten Mal eines seiner Werke interpretieren hörte, war es fasziniert, aber nicht nur wegen der Schönheit der Melodie und der perfekten Harmonie. Auch sein Anblick machte Marie sprachlos. Wenn er dort oben thronte und genau die richtigen Tasten und Pedale seiner Orgel zu bedienen wusste, wirkte er wie der Schöpfer der ganzen Welt.
    Von diesem Moment an gewöhnte Marie es sich an, zunächst das Essen auf ein Tischchen zu stellen, auf dem Charpentiers Kohlestifte und leere Partituren lagen, und dann noch eine Weile zu bleiben, um dabei zuzuhören, wie seine Kompositionen Form annahmen. Sie hockte sich in einen leeren Beichtstuhl, strich sich mit geschlossenen Augen über den runden Bauch und begann nach und nach, durch den Kreuzgang zu schweben, eingelullt von der Musik, die alles erfüllte.
    Im Haus des Schreibers wurde Marie wie ein Mitglied der Familie behandelt, daher waren am Tag der Geburt alle dabei, als sich ihr Wehklagen mit Matthieus erstem Schrei vermischte. Die junge Bedienstete wusste, dass sie sterben würde, und bat ihre Herrin nur darum, das Kind wie ihr eigenes aufzuziehen.
    »Es wird sein, als hätte ich Zwillinge geboren«, beruhigte sie die Frau des Schreibers, die ein paar Tage zuvor selbst einen Jungen namens Jean-Claude zur Welt gebracht hatte.
    Marie schloss für immer die Augen, und Matthieu blieb in einer Familie zurück, in die er eigentlich nicht gehörte: im Haus eines wohlhabenden Intellektuellen, der sich den Lebensunterhalt damit verdiente, offizielle Dokumente für Angehörige des Parlaments zu verfassen. So ein Mensch würde sich für seinen Adoptivsohn nun wirklich kein Leben als Geiger wünschen, aber er musste bald akzeptieren, dass niemand seinem Schicksal entrinnen kann.
    Seit dem Tag seiner Geburt übten Musik und alles, was damit zu tun hatte, eine fast krankhafte Anziehungskraft auf Matthieu aus. Wenn vor dem Fenster ein Straßenmusikant vorbeizog, kreischte der Junge, bis seiner Mutter die Ohren dröhnten, damit man ihn am Fenster hochhob. Und er konnte stundenlang weinen, nur um zu erreichen, dass ihn jemand zu seinem Onkel brachte, wo er ihm beim Proben zusehen durfte. Er konnte allem, was ihm in die Hände fiel, Töne entlocken: Oft ließ er seinen kleinen Zeigefinger über den Rand eines Glases gleiten und brachte es so zum Singen, oder er verbrachte Stunden damit, mit einem Löffel auf den Tisch zu schlagen und dabei den Rhythmus einer Melodie nachzuahmen, die er nur ein einziges Mal gehört hatte und die er in Gedanken wie ein Besessener immer und immer wieder durchging. An seinem fünften Geburtstag geschah dann das, was sein Schicksal für immer besiegeln sollte.
    An jenem Nachmittag im August fiel die Sonne glühend heiß auf das Haus. Als der letzte Gast eintraf, erschien im Zimmer der kleine Matthieu – den schon seit einer ganzen Weile niemand mehr gesehen hatte – mit der erwartungsvollen Miene, die Künstler bei ihrem ersten Auftritt vor Publikum zur Schau stellen. In der Hand hielt er einen Stock, der etwa einen halben Meter lang war und mit dem seine Mutter sonst bei der Seifenherstellung Wasser, Fett und Natron im Kessel rührte. Er legte sich den Knüppel auf die Schulter, blickte die Anwesenden aus dem Augenwinkel an und begann so zu tun, als
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