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Das gebrochene Versprechen

Das gebrochene Versprechen

Titel: Das gebrochene Versprechen
Autoren: Marcia Muller
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Zartrosa.
    Ich liebte diesen Landstrich,
der so schön und freundlich, aber auch so sturmgepeitscht und ungastlich sein
konnte. Der Gedanke, unser Stück Land zu verlieren, weil wir beide nicht mehr
zueinander fanden, war unendlich traurig. Ich liebte diesen Mann, dessen viele
verschiedene Seiten so gut an diese Küste hier passten. Der Gedanke, ihn zu
verlieren, war unerträglich.
    Ich sagte: »In der Nacht im Zug
— woher kam da dieser ganze Zorn?« Er fixierte weiter den Horizont, und die
feinen Fältchen in seinen Augenwinkeln vertieften sich, weil er die Augen gegen
das Gleißen zusammenkniff. »Der Tag, der da gerade zu Ende ging, war der
sechsundzwanzigste Juli, Julies Todestag.«
    Seine Frau, Julie Spaulding,
war vor einigen Jahren an multipler Sklerose gestorben. Ich hatte sie nicht
gekannt, nur ein einziges Foto von ihr gesehen. Sie war trotz ihrer Krankheit
eine engagierte und aktive Umweltschützerin gewesen und für Hy so etwas wie ein
Rettungsanker, als er nach wüsten Jahren als Charterpilot im kriegsgebeutelten,
korruptionsdurchseuchten Südostasien zurückgekehrt war. Ich wusste, dass er sie
sehr geliebt hatte, aber jetzt schien es —
    »Nein, McCone. Ich war nicht
wütend, weil ich Julie vermisst habe. Ich habe sie sehr geliebt, ja, aber das
ist Jahre her, und, so traurig das ist, ich kann mir zeitweise nicht mal mehr
vorstellen, wie sie aussah.«
    »Was war dann mit dir los?«
    »Du warst einfach verschwunden.
Du hattest mir nicht gesagt, wo du hin wolltest, und du warst nicht rechtzeitig
zur Abfahrt da. Du bist nie unpünktlich, außer, irgendwas ist schief gelaufen.
Ich konnte die ganze Zeit nur denken: ›Heute verliere ich sie auch noch.‹«
    »O Gott. Und als ich dann
aufgetaucht bin und dir klar wurde, dass es nur meine Achtlosigkeit war, die
dich in diese ganze Sorge gestürzt hat —«
    »Da bin ich sauer geworden und
hab’s an dir ausgelassen.«
    Okay, das erklärte seinen
Zornausbruch, aber nicht die Distanz, auf die er sich seither zurückgezogen
hatte. »Da ist noch was«, sagte ich.
    Ich sah ihn an und wartete. Im
schwindenden Licht waren seine markanten Züge scharf, seine Augen dunkel und
unentzifferbar. Ein paar Sekunden war mir, als säße ich neben einem Fremden.
»Ja«, sagte er, »da ist noch was. Es wird dir vielleicht trivial vorkommen,
aber es nagt schon die ganze Zeit an mir.«
    »Sag’s mir.«
    »Weißt du noch, wie wir in
diesem Salonwagen saßen, in dem Zug, und sie das Video laufen ließen, von Rae
und Ricky vor Union Station?«
    »Ja.«
    »Kurz bevor sie wieder in die
Limousine stieg, hat er etwas zu ihr gesagt.«
    »Ach ja? Oh, klar. Ich weiß
nicht, was es war, aber es hat sie total gefreut, so wie ihn diese
Voice-mail-Botschaft gefreut hat, die er in Albuquerque abgehört hat.«
    »Tja, ich weiß, was es war. Ich
kann von den Lippen ablesen — kommt daher, dass ich all die Jahre immer von
lauten Flugzeugen umgeben war.«
    »Und was hat er gesagt?«
    »Er hat ihr gesagt, dass er sie
liebt.«
    »Und das hat an dir genagt?«
    Er stand auf, trat an die
Brüstung, stützte sich darauf, den Rücken zu mir.
    »McCone«, sagte er, »wann hast
du mir zum letzten Mal gesagt, dass du mich liebst?«
    Ich dachte nach. Schüttelte den
Kopf. »Ich weiß nicht.«
    »Genau.«
    »Ripinsky, worauf willst du
hinaus?«
    Er drehte sich um, traurige
Falten um die Mundwinkel. »Du hast es mir gar nie gesagt — kein einziges Mal in
der ganzen Zeit, die wir zusammen sind.«
    »Das kann nicht sein.« Doch
noch im Reden begriff ich, dass er Recht hatte.
    »Kein einziges Mal«,
wiederholte er mit belegter Stimme. Unglaublich, wo ich ihn doch so liebte.
Aber es gab einen Grund: Ich war in einem Haushalt aufgewachsen, wo ständig von
Liebe die Rede gewesen war, aber im Kern hatte unser Familienleben an
Unaufrichtigkeit und Kälte gekrankt. Als ich von zu Hause weggegangen war,
hatte ich mir geschworen, dass in meinen Erwachsenenbeziehungen kein Raum für
solche Heuchelei sein würde. Wenn man solche Beschlüsse fasst, schüttet man
oft, ohne es zu merken, das Kind mit dem Bade aus.
    Hy musterte mich mit jenem
analytischen Blick, den ich aus Albuquerque kannte. Er wartete auf eine
Erklärung.
    Aber wie sollte ich sie ihm
geben? Wie konnte ich ihn überzeugen, dass mein Schweigen nur daher kam, dass
mir das Wort ›Liebe‹ nicht so leicht von der Zunge ging? Ich ließ unsere
gemeinsame Zeit Revue passieren: dieses wechselseitige Verstehen, das von
Anfang an zwischen uns da gewesen war; die
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