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Das Foucaultsche Pendel

Das Foucaultsche Pendel

Titel: Das Foucaultsche Pendel
Autoren: Umberto Eco
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Ratschkowskiragot-zitzarogi? Signaturen, Signaturen...
    Überlegen wir mal. Die einzige Art, den Teufel in Verlegenheit zu bringen, ist bekanntlich, ihn glauben zu machen, daß man nicht an ihn glaubt. An meiner nächtlichen Flucht durch Paris war überhaupt nichts Ungewöhnliches, auch nicht an meiner Vision des Eiffelturms. Aus dem Conservatoire zu kommen, nach allem, was ich dort gesehen hatte oder gesehen zu haben glaubte, und die Stadt als einen einzigen Alptraum zu erleben, war normal. Aber was hatte ich im Conservatoire gesehen?
    Ich mußte unbedingt mit Doktor Wagner sprechen. Keine Ahnung, wieso ich mir in den Kopf gesetzt hatte, dies werde das Allheilmittel sein, aber so war es. Sprechtherapie.
    Wie habe ich den restlichen Abend verbracht? Ich glaube, ich bin in ein Kino gegangen, wo The Lady from Shanghai von Orson Welles gezeigt wurde. Als die Szene mit den Spiegeln kam, habe ich’s nicht mehr ausgehalten und bin gegangen.
    Aber vielleicht stimmt das gar nicht, vielleicht habe ich das nur geträumt.
    Heute morgen um neun habe ich dann bei Doktor Wagner angerufen. Der Name Garamond half mir, die Barriere der Sekretärin zu überwinden, der Doktor schien sich an mich zu erinnern, und angesichts der Dringlichkeit meines Falles, die ich ihm zu verstehen gab, sagte er, ich solle gleich kom-730
    men, um halb zehn, vor den anderen Patienten. Er klang freundlich und verständnisvoll.
    Habe ich auch den Besuch bei Doktor Wagner nur geträumt?
    Die Sekretärin ließ sich meine Personalien geben, legte eine Karteikarte an und kassierte das Honorar. Zum Glück hatte ich das Ticket für den Rückflug schon in der Tasche.
    Ein Sprechzimmer in bescheidenen Dimensionen, ohne Couch. Fenster zur Seine, links die Silhouette des Eiffelturms. Doktor Wagner empfing mich mit professioneller Liebenswürdigkeit — recht so, dachte ich, schließlich war ich jetzt nicht einer seiner Lektoren, sondern ein Patient. Mit einer weitausholenden Geste ließ er mich vor seinem Schreibtisch Platz nehmen, wie ein Chef, der einen Angestellten empfängt. »Et alors?« sagte er, gab seinem Drehses-sel einen Stoß und kehrte mir den Rücken zu. Den Kopf hielt er gebeugt und die Hände, wie mir schien, gefaltet. Mir blieb nichts anderes mehr, als zu sprechen.
    Und ich sprach, ich redete wie ein Wasserfall, ich holte alles hervor, von Anfang bis Ende — was ich vor zwei Jahren gedacht hatte, was ich letztes Jahr dachte, was ich dachte, daß Belbo gedacht hätte, und Diotallevi. Vor allem aber, was in der Johannisnacht passiert war.
    Wagner unterbrach mich kein einziges Mal, nickte nie, gab weder Zustimmung noch Mißbilligung zu erkennen. So wie er dasaß, hätte er in tiefen Schlaf gesunken sein können.
    Aber das mußte seine Technik sein. Und ich sprach und sprach. Sprechtherapie.
    Dann wartete ich, daß er sprach, wartete auf sein erlösendes Wort.
    Wagner stand auf, sehr langsam. Ging, ohne mich anzusehen, um den Schreibtisch herum und trat ans Fenster. Blieb dort stehen und sah hinaus, die Hände auf dem Rücken verschränkt, gedankenverloren.
    Schweigend, zehn, fünfzehn Minuten lang.
    Dann, ohne sich umzudrehen, in einem neutralen, gelassenen, beruhigenden Ton: »Monsieur, vous êtes fou*.«
    Er blieb reglos, ich ebenfalls. Nach weiteren fünf Minuten
    * Mein Herr, sie sind verrückt.
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    begriff ich, daß nichts mehr kommen würde. Ende der Sitzung.
    Ich ging grußlos hinaus. Die Sekretärin schenkte mir ein breites Lächeln, dann stand ich wieder auf der Avenue Elisée Reclus.
    Es war elf. Ich holte meine Sachen aus dem Hotel und fuhr zum Flughafen raus, auf gut Glück. Ich mußte zwei Stunden warten, und währenddessen rief ich im Verlag an, mit R-Gespräch, weil ich kein Geld mehr hatte. Gudrun war am Apparat, sie schien noch begriffsstutziger als gewöhnlich, ich mußte ihr dreimal laut zurufen, sie solle ja sagen, oui, yes, sie nehme das Gespräch an.
    Sie schluchzte: Diotallevi war am Samstag um Mitternacht gestorben.
    »Und keiner, keiner von seinen Freunden war heute morgen bei der Beerdigung, so eine Schande! Nicht mal der Signor Garamond, er ist angeblich auf einer Auslandsreise.
    Nur ich, die Grazia, Luciano und ein Herr ganz in Schwarz, mit Bart und gelockten Kotteletten und einem großem Hut, sah aus wie ein Totengräber. Gott weiß, wo der herkam.
    Aber wo stecken Sie denn, Casaubon? Und wo ist Belbo?
    Was ist passiert?«
    Ich murmelte ein paar wirre Entschuldigungen und häng-te ein. Mein Flug wurde aufgerufen, ich
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