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Das Ende der Welt

Das Ende der Welt

Titel: Das Ende der Welt
Autoren: Sara Gran
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hatte keine Lust mehr.
    Ich rollte mich zu einer Kugel zusammen und zog mir die Decke über den Kopf.
    »Hauen Sie ab«, sagte ich.
    »Wissen Sie, ich habe gesehen, wie sehr Sie sich bemühen, allem ein Ende zu machen«, sagte der Lama, »wieder und wieder. So langsam kann ich Sie nicht mehr ernst nehmen.«
    »Danke«, sagte ich. »Nehmen Sie Ihre Gebetsperlen und schieben Sie sie sich …«
    »Nein«, sagte er. »Claire, im Ernst. Etwas Ähnliches ist mir nie untergekommen. Wissen Sie, dass es Menschen gibt, die alles geben würden, um mit Ihnen zu tauschen?«
    Etwas Dümmeres hatte ich nie gehört. Falls irgendjemand mein Leben wollte, konnte er es gern haben.
    »Ich meine, Sie haben eine Aufgabe, das ist ganz offensichtlich«, sagte er. »Die meisten Leute, die sich umbringen wollen, schaffen es irgendwann. Die meisten Leute treiben durchs Leben, ohne Ziel und ohne Plan, sie wissen nicht einmal, warum sie hier sind. Aber Sie, Sie sind anders. Sie sind nicht totzukriegen! Schauen Sie sich an! Sie sind voller Narben, Sie haben sich mit Drogen kaputt gemacht und bringen sich ständig in Lebensgefahr. So etwas habe ich sonst weder gesehen noch gehört. Ist es Ihnen je in den Sinn gekommen« – inzwischen klang er ein wenig verärgert –, »dass nichts grundlos geschieht? Dass Sie noch hier sind, weil Sie gebraucht werden?«
    »Bescheuerte Plattitüden …«
    »Ohne Constance«, fuhr er ungerührt fort, »wären wir beide längst tot. Keine Frage. Und irgendwo gibt es mindestens einen Menschen, der es ohne Sie nicht geschafft hätte. Das weiß ich. Nicht, dass Sie mir je den Eindruck vermittelt hätten, von Nutzen zu sein, aber auf Constance vertraue ich. Sie sind aus einem bestimmten Grund noch hier. Ich meine, es hätte Sie jederzeit erwischen können. Als sie ermordet wurde, als dieser Freund von Ihnen ermordet wurde – es hätte
Sie
treffen sollen, das wäre tausendmal gerechter gewesen. Aber es kam anders. Ich wünschte, ich wäre so verdammt bedeutend. Ich wünschte, die Welt würde sich um mich genauso reißen. Im Ernst.«
    Ich schwieg. Er schnaubte angesichts meiner Widerlichkeit, ging hinaus und zog die Tür lautstark hinter sich zu.
    Ich dachte an Chloe. Chloe und ihre beiden Kinder. Und an Andray. Andray, irgendwo da draußen, ganz allein.
    Ich wünschte mir, jemand, der fähiger war als ich, würde des Wegs kommen und Andray unter seine Fittiche nehmen. Ich wünschte es mir für Andray und für mich. Aber dazu würde es nicht kommen. Terrell saß im Knast. Mick ging es vermutlich noch schlechter als mir.
    Für Andray hieß es nicht: Claire oder jemand Besseres. Für ihn hieß es: Claire oder niemand.
     
    Am nächsten Morgen fing ich wieder zu essen an. Einen Tag später stand ich auf und ging ein bisschen auf dem Gelände spazieren. Am darauffolgenden Nachmittag half ich den Kindern dabei, eine Gartenlaube zu bauen.
    Nach ein paar Tagen begegnete ich Jenny in der Küche. Sie kochte Tee und ignorierte mich.
    »Hey«, sagte ich. »Danke. Für die Aufnahme. Ich meine, sicher wollten Sie nicht, dass …«
    Sie sah mich an.
    »Man fällt hin«, sagte sie. »Wir alle fallen hin. Werden Sie wieder aufstehen?«
    »Ja, ich glaube schon«, sagte ich nach einer Weile.
    »Ich auch«, sagte sie. »Ich glaube, manche stehen immer wieder auf. Immer wieder.«
     
    Am Abend besuchte der Lama mich in meiner Kammer, wo ich zum zweiten Mal
Der Berg der sieben Stufen
las. Das Kloster war toll, aber die Bücherei ließ wirklich zu wünschen übrig. Ich hatte mir eine Notiz gemacht, dem Lama, sobald ich wieder in der Stadt war, ein paar Bücher zu schicken.
    »Und?«, fragte der Lama. »Haben Sie immer noch nichts von Andray gehört?«
    »Nein«, sagte ich. Genau konnte ich es natürlich nicht wissen. Ich hatte beim Autounfall mein Handy verloren und meine E-Mails seither nicht mehr abgerufen.
    Der Lama sah besorgt aus. So besorgt kannte ich ihn gar nicht. Er setzte sich auf die Bettkante. Ich fühlte mich wie ein Kind im Ferienlager, das ein Geheimnis erfährt. Ich war zwar nie im Ferienlager gewesen, aber so sah es im Fernsehen immer aus.
    »Trey hat angerufen«, sagte er. »Vor einigen Wochen, und gestern Abend noch einmal. Andray ist mit einem Mädchen aus Kansas City durchgebrannt. Sie wollten sich in Las Vegas wieder treffen, aber Andray ist nicht aufgetaucht. Er geht nicht an sein Handy und meldet sich auch nicht mehr bei Terrell.«
     
    Ich half den Kindern, bis die Laube fertig war, und dann half ich ihnen,
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