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Das Ende der Geschichten (German Edition)

Das Ende der Geschichten (German Edition)

Titel: Das Ende der Geschichten (German Edition)
Autoren: Scarlett Thomas
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kleiner und kleiner werden, bis sie schließlich zum Bayard’s Cove um die Ecke bog. Doch wie jeder Wissenschaftler weiß, wurde sie natürlich keineswegs kleiner und kleiner, sondern entfernte sich nur einfach immer weiter.
    ***
    Der Wind blies jetzt recht heftig am Fluss entlang, und während ich mit B. eilig Richtung Heimat strebte, betrachtete ich aus dem Augenwinkel die kleinen Wellen und Strudel im schwärzlich-grünlichen Wasser. Libbys Wagen war nicht mehr zu sehen. Weil ich zum Fluss und nicht zu den Bänken schaute, zuckte ich zusammen, als plötzlich jemand «Hallo!» sagte. Es war ein Mann, halb in der Dämmerung verborgen. B. war bereits dabei, seine museumsreifen Wanderstiefel zu beschnüffeln, und er kraulte sie zwischen den Ohren. Er trug Jeans und einen Dufflecoat, das strubbelige, graumelierte Haar fiel ihm in die Stirn. Ob er alles gesehen hatte? Mit Sicherheit. Hatte er womöglich auch gehört, dass der Vorschlag von mir gewesen war? Er sah auf, doch ich hatte ihn vorher schon erkannt: Rowan. Dann war er also doch gekommen. War er die ganze Zeit über jeden Sonntag hier gewesen?
    «Hi», sagte ich. «Du …»
    «Hallo», wiederholte er. «Ziemlich kalt, was?»
    «Kalt ist gar kein Ausdruck.»
    «Geht’s dir gut?»
    «Ja. So weit. Und wie geht’s dir?»
    «Ich friere. Und ich bin deprimiert. Ich brauchte einfach ein bisschen frische Luft. Heute habe ich den ganzen Tag im Museum gesessen und an meinem Titanic -Kapitel gefeilt. Ob du’s glaubst oder nicht, ich bin immer noch nicht fertig damit. Aber wahrscheinlich muss ich schon dankbar sein, dass ich überhaupt noch lebe. Schließlich haben mir alle prophezeit, die Rente würde mein Tod sein.»
    Rowan war vor etwas über einem Jahr mit seiner Lebensgefährtin Lise nach Dartmouth gezogen, damit sie sich besser um Lises Mutter kümmern konnten. Sie bewohnten ein umgebautes Bootshaus in der Nähe der Burg, das einen spektakulären Blick auf die Hafeneinfahrt bot. Das ganze Haus war geschmackvoll und minimalistisch: Es gab nichts Altes oder Abgenutztes darin, obwohl das bestimmt nicht immer so gewesen war. Bevor Rowan in Rente ging, war ich einmal zum Abendessen dort gewesen. Lise war viel zu stark geschminkt und sprach mit ihm wie mit einem Kleinkind. Sie erzählte, wie er einmal drei Stunden lang durch ein Einkaufszentrum geirrt und wie er auf der hochoffiziellen Weihnachtsfeier ihrer Firma statt im Anzug in Jeans erschienen war – und wie er den neuen Geschirrspüler mit nur einem Griff kaputtgekriegt hatte. Ich stellte ihn mir in seinem geräumigen Büro an der Greenwich University vor, das Fenster geöffnet, damit der Duft vom frischgemähten Gras hereindrang. Dort saß er, umgeben von Büchern und mit einer guten Tasse Kaffee, und fürchtete sich insgeheim vor solchen Essenseinladungen. Damals hatte ich mich gefragt, warum er überhaupt in Pension ging.
    «Die meisten Leute werden Hobbygärtner oder Heimwerker, wenn sie pensioniert sind», sagte ich. «Sie suchen sich normalerweise keine neue Stelle als Leiter eines Schifffahrtsmuseums. Ich glaube, nach der landläufigen Definition bist du also gar nicht in Rente.»
    Rowan seufzte. «Ich hantiere den ganzen Tag mit Modellbooten herum. Mit Windmaschinen, Stein- und Muschelsammlungen und interaktiven Gezeitentafeln. Nicht gerade die anspruchsvollste Tätigkeit. Aber immerhin habe ich jetzt Zeit genug, Yoga zu lernen.»
    Anscheinend hatte er nicht vor, Libby und ihren Wagen zu erwähnen. Wir würden ein ganz «normales» Gespräch führen, ein bisschen unken und ein bisschen schäkern, so wie bei all unseren früheren Gesprächen vor der Eröffnung des Schifffahrtsmuseums, als er noch täglich in die Bibliothek nach Torquay kam, um seinen Papierkram zu erledigen, und wir ständig zusammen Mittag essen gingen oder Kaffee tranken. Ob wir uns nach diesem Gespräch wohl auch wieder küssen würden wie nach dem letzten?
    «Wie läuft es denn mit dem Schreiben?», fragte er mich.
    «Ganz gut», antwortete ich. «Wenn man das so sagen kann. Ich sitze wieder am ersten Kapitel meines ‹richtigen› Romans und schreibe es um. Neulich habe ich mal ausgerechnet, dass ich in den letzten zehn Jahren etwa eine Million Wörter dieses Romans gelöscht habe. Man sollte meinen, dass er dadurch irgendwann richtig gut wird, aber das ist nicht so. Streng genommen ist er eine ziemliche Katastrophe, aber was soll’s?»
    «Wirst du die Geisterschiffe noch verwenden?»
    «Nein. Oder vielleicht doch. Vielleicht kommen
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