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Das Echo der Lüge - Miller, S: Echo der Lüge

Das Echo der Lüge - Miller, S: Echo der Lüge

Titel: Das Echo der Lüge - Miller, S: Echo der Lüge
Autoren: Sophie Miller
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in Stimmung und trank mehr Wein, als ich gewohnt war. Zwischendurch plauderte ich mit Stammkunden von Cocult ; schließlich wurde es so spät, dass ich meine berufliche Pflicht für erledigt hielt. Pascal schlug vor, woanders hinzugehen. Im Freien spürte ich den Alkohol unvermittelt, ich taumelte, er bot mir seinen Arm. Nun, da wir allein waren, wurden wir nicht vertrauter, eher das Gegenteil. Wortkarg liefen wir durch die fast menschenleeren Straßen. In seiner Hotelbar sei bis zum Morgengrauen was los, sagte er und auf meinen skeptischen Blick: »Machen Sie sich bloß keine falschen Hoffnungen – ich bin viel zu müde.«
    In der Lobby des Hotels tummelte sich eine lustige Gesellschaft, Mitglieder eines PEN-Kongresses, der in Toronto tagte. Schriftsteller und Philosophen amüsierten sich im besten Hotel am Platz. Pascal bestand darauf, endlich mit mir zu tanzen, und nahm mich um die Taille. Ich konnte es nicht genießen, das Gedränge war zu groß. Ich floh aus seinem Arm, wollte zur Bar und rannte einen kanadischen Dichter um. Pascal half uns beiden auf, die Leute lachten. Ich fühlte mich ausgelacht und war im Begriff, mir einen Drink zu bestellen, als Pascal dem Barkeeper zuwinkte, mir nichts mehr zu geben. Nur eine flüchtige Geste, doch ich werde sie nie vergessen. Das war der Wink eines mächtigen Mannes, einer der nimmt, befiehlt, taxiert und verkauft, der ungern teilt, aber gern verschenkt. Ich starrte ihn an. »Wer bist du?«, fragte ich, betrunkener, als mir bewusst war.
    »Der, der dich jetzt ins Hotel bringt.«
    »Wir sind schon im Hotel.«
    »Aber in meinem, Tony.«
    »Ich muss gar nicht ins Hotel.« Ich stieß mich vom Tresen ab.
    »Stimmt, das ist deine Stadt.« Er führte mich durch das Gewimmel zum Ausgang, zum Taxi, er überließ mich nicht mir selbst, sondern begleitete mich. Unterwegs ließ ich das Fenster herunter und rief in die Nacht, dass ich kein kleines Kind sei, das man zur Mami bringen müsse.
    »Lebst du noch bei deinen Eltern?«, fragte er ungläubig.
    »Meine Eltern sind tot.«
    »Da hast du Glück gehabt.«
    Als wir meine Adresse erreichten, brachte mich Pascal zur Tür, aber nicht weiter. So endete unsere erste Nacht.
    Da hast du Glück gehabt – erst später verstand ich diesen Satz. Pascal und seine Familie hatten ein merkwürdiges Verhältnis zueinander; in unseren gemeinsamen Jahren war es mir nicht gelungen, das Wesentliche seiner Beziehung zur Familie zu begreifen.
    »Wann fahren wir endlich zu deinen Leuten?«, hatte ich gefragt. Pascal versprach es, er wollte mir auch die Schweiz zeigen. Immer war etwas dazwischengekommen, ein unaufschiebbares Meeting, der Geburtstag eines Freundes, ein Kongress. Dass er mich seiner Familie nicht vorstellte, hatte mich damals kaum gestört. Er brauchte mich nicht mit nach Hause zu nehmen, um zu zeigen, dass er mich liebte. Er zeigte mir alles andere, die ganze Welt.
    Pascals Familie kennenlernen zu wollen, zu einem Zeitpunkt, da ihn jeder außer mir für tot hielt, erkannte ich nun als verrückte Idee. Warum er mir die Familie vorenthalten hatte, konnte ich mir nach wie vor nicht erklären. War ihr Verhältnis zerrüttet, gestört gewesen, aber wodurch? Trotz meiner Anspannung legte ich mich wieder ins Bett. Es war immer noch zu früh zum Schlafengehen, doch um etwas zu unternehmen, hätte ich noch einmal aus der Schlucht hochsteigen müssen. Ich griff nach einem Buch, las und merkte, dass ich nicht mitkriegte, was ich las. Mein Handy vibrierte, eine Nachricht von Pascals Bruder: morgen, am späten Vormittag, im Hause der Zuermatts. Es folgte eine kurze Wegbeschreibung. Kein Gruß, kein freundliches Wort. Ich zog die Decke unters Kinn und versuchte noch einmal, Pascal lebendig werden zu lassen.

3
    Er war nicht abgeflogen. Pascal hatte seinen Rückflug verschoben und rief mich am nächsten Tag an. Ich hatte einen harten Tag gehabt, der Rotwein verursachte mir Säure, die Drinks hatten mein Sehvermögen beeinträchtigt. Ich blinzelte die Messebesucher an und trank schrecklich viel Kaffee.
    »Bist du ein Schluckspecht?«, fragte Pascal am Telefon.
    Ich kannte das Wort nicht, er erklärte es und sagte, nach dem letzten Abend habe er Respekt vor mir. Bei der Menge, die ich konsumiert hätte, wäre er im Krankenhaus gelandet.
    »Habe ich mich schlecht benommen?« Ich musste mich gegen ein Regal lehnen, war kaum bei mir. Die Szene im Hotel fiel mir ein, mit der Zunge fuhr ich über die trockenen Lippen. »Wieso sind Sie überhaupt noch
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