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Das Dorf der verschwundenen Kinder

Das Dorf der verschwundenen Kinder

Titel: Das Dorf der verschwundenen Kinder
Autoren: Reginald Hill
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dem Abend, als sie Benny sah, muß Betsy wirklich verängstigt und durcheinander gewesen sein. Vielleicht hat einfach jeder angenommen, weil sie in der Nähe von Neb Cottage gefunden wurde, daß sie Benny dort gesehen hatte, und sie stritt es erst einmal nicht ab und glaubte dann selbst daran, weil sie die Wahrheit verdrängen wollte. Erst später, als Dr. Appleby mit ihr arbeitete, kam dann alles wieder zurück.«
    »Aber ihr hat sie nicht verraten, daß sie sich an die Wahrheit erinnerte«, sagte Pascoe.
    »Nein. Nicht der Psychiaterin. Inzwischen war sie alt genug, sich die volle Bedeutung ihres Erlebnisses klarzumachen. Und klug genug zu begreifen, daß sie damit die Macht hatte, Wulfstan in die Rolle des liebenden Vaters hineinzuzwingen, was sie anhand ihrer flehentlichen Versuche mit Gewichtsreduktion und Haarefärben nicht geschafft hatte.«
    Die Männer schwiegen. Inzwischen hatten sie den Rand von Danby erreicht. Nicht unbedingt ein Ort, in dem nachts das Leben tobt, dachte sie. Es gab kaum Verkehr, und die wenigen Menschen auf den Straßen bewegten sich so langsam wie Rauchwolken durch die Abendsonne.
    Eine Geisterstadt. Eine Stadt voller Geister, die über den Leichenpfad vom Neb herüberdriften. Aber nicht, um zu spuken. Eher um zu bitten, zur Ruhe gebettet zu werden.
    »Dann denken Sie also, Wulfstan hat es getan, bei allen vier Mädchen, einschließlich seiner Tochter?«
    »Er wäre nicht der erste«, entgegnete Novello.
    »Der erste inwiefern?« erkundigte sich Pascoe.
    »Der erste Kindesmißhandler und -mörder, der sich an der eigenen Familie vergreift!« entfuhr es ihr leidenschaftlicher, als sie beabsichtigt hatte.
    »Und Betsy weiß, daß er ein Monster ist, will aber trotzdem von Herzen gern seine Tochter werden?« meinte Dalziel ungläubig. »Eins ist sicher, Herzchen, Sie gehören nicht zu den Feministinnen, die behaupten, Frauen könnten nichts verkehrt machen.«
    »Ich rede hier nicht von richtig oder verkehrt. Ich rede von der Wahrheit«, gab Novello verärgert zurück. »Und es würde unsere Arbeit bestimmt um einiges erleichtern, wenn Männer der Wahrheit ebenso ins Gesicht sehen würden wie wir Frauen.«
    Oh, Scheiße, dachte sie und sank in ihren Sitz zurück. Eben noch hallelujasingend mit der Dreifaltigkeit im Himmel, im nächsten Augenblick in kometenhaftem Sturz auf dem Weg zur Hölle!
    Und dies war der Moment, an dem Pascoe in seiner Fundgrube an Bemäntelungen stöberte und nichts Besseres fand als: »Was ist Wahrheit?«
    Den Rest der Fahrt zur Beulah-Kapelle legten sie in bedächtigem Schweigen zurück.
    Dort angelangt, war Pascoe nicht mehr nachdenklich, sondern beobachtete alles ganz genau. Er hatte das Gefühl, daß die Sache hier zum Abschluß gelangen würde. Doch wie in allen guten Vorführungen war es erst vorbei, wenn der dicke Mann gesungen hatte.
    Nach Dalziels lautstarkem Ruf nach Tee schnitt eine Stimme durch das sich anhebende Raunen. Sie war klar und charmant und stammte von einer gut gebauten, gutaussehenden Frau, in der Pascoe ohne große Überraschung (im Moment konnte ihn nichts mehr überraschen) Cap Marvell wiedererkannte, Dalziels Exfreundin. Sie rief. »Ladies und Gentlemen, es ist ein solch schöner Abend, daß die Getränke draußen im Hof kredenzt werden.«
    Während das Publikum langsam hinausströmte, ging sie zum Dicken, legte ihre Hand auf seinen Arm und flüsterte ihm ins Ohr: »Andy, was ist passiert?«
    »Erzähl ich dir später, Herzchen«, antwortete er. »Es wäre hilfreich, wenn wir die da drüben auch noch loswerden könnten.«
    Einige der Zuhörer waren aufgrund von Knauserigkeit, Neugier oder Arthritis auf ihren Sitzen geblieben. Cap Marvell ging von einem zum anderen, redete leise auf ihn ein, und einer nach dem anderen erhob sich. Sie geleitete die Gäste zum Ausgang und lächelte Dalziel im Vorübergehen zu.
    Vielleicht, dachte Pascoe, sollte ich das »Ex« wegstreichen.
    Dalziel sah zu ihm herüber, und ohne nachzudenken, legte er den Kopf schief und machte ein »Aber hallo!«-Gesicht. Himmel, ich werde mutig, dachte er.
    Marvell schloß hinter dem letzten Gast die Tür. Eine überzeugende Frau, dachte Pascoe. Oder vielleicht hatte sie bei ihrem Freund gelernt und den Leuten einfach geraten, sie sollten sich verpissen, solange sie noch zwei gesunde Beine zum Laufen hätten.
    Sie kehrte zu Dalziel zurück und fragte wie ein braves Hausmädchen: »Sonst noch etwas, Sir?«
    Er sagte: »Ich hab so das Gefühl, daß das Konzert vorbei ist,
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