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Das Buch aus Blut und Schatten

Das Buch aus Blut und Schatten

Titel: Das Buch aus Blut und Schatten
Autoren: Robin Wasserman
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Woche verließ ich den Unterricht früher und gesellte mich in dem muffig riechenden Büro des Hoff zu Max und Chris. Ich weiß nicht, ob es an Max’ strengen Blicken lag oder daran, dass Chris’ Faulheit sogar noch größer war als sein Hang, sich ständig mit irgendetwas ablenken zu wollen, oder an meiner Neugier, jedenfalls gehörten Wettkämpfe mit Papierflugzeugen und Fingerspiele bald der Vergangenheit an. Häufig vergingen Stunden, in denen nur wenige Worte gewechselt wurden, zumeist knapp formulierte Bitten um ein Wörterbuch oder eine Konjugationsliste, unterdrückte Verwünschungen, frustrierte Seufzer und das monotone Gemurmel halb laut gelesener Textstellen, in denen wir den Rhythmus der Vergangenheit suchten. Mehr als einmal wartete bei meiner Ankunft schon ein Cappuccino auf mich, den mir Max zubereitet hatte, mit Zimt und zwei Stück Zucker, so wie ich ihn am liebsten hatte.
    Â»Du kniest dich da richtig rein, stimmt’s?«, fragte Chris einmal, als er mich hinausbegleitete. Es war schon spät und er bot an, mein Fahrrad in sein Auto zu verfrachten und mich nach Hause zu bringen, doch ich lehnte ab und erwiderte, dass ich gern durch die Dunkelheit fuhr.
    Ich ließ mich nie von jemandem nach Hause bringen.
    Â»Auf den Bewerbungen fürs College wird es gut aussehen«, meinte ich dann noch.
    Â»Mhm.«
    Â»Also gut. Es ist interessant. Ich kann mich mit etwas beschäftigen, das seit vierhundert Jahren niemand gelesen hat. Das ist nicht die schlechteste Art, einen Nachmittag zu verbringen.«
    Â»Vorsicht«, warnte er. »Du klingst schon fast wie Max.«
    Inzwischen hörte sich das für mich gar nicht mehr so beleidigend an, wie es das früher vielleicht gewesen wäre. Und als ich an jenem Abend nach Hause kam, machte ich sofort mit der Übersetzung weiter.
    E. J. Weston grüßt ihren liebsten Bruder John Fr. Weston.
    Der Traum ist immer gleich. Unser Vater springt vom Turm, sein weißes Nachthemd bauscht sich hinter ihm auf wie die Flügel eines Engels. Er glaubte, die Engel würden ihn sicher in die Freiheit tragen, und immer, für einen endlos langen Moment, vertraue ich auf seinen Glauben. Ich gehe davon aus, dass er fliegt. Doch jedes Mal fällt er. Blut breitet sich auf der weißen Seide aus. Ich erwache, doch noch immer höre ich seine Stimme, die meinen Namen ruft. In Wirklichkeit hat er nicht nach mir gerufen, kein einziges Mal. Er fiel still zu Boden. Die Wachen mussten auf der Lauer gelegen haben, denn kurz darauf waren sie bei ihm und schleppten ihn in seine Zelle zurück. Er wand sich vor Schmerz, er blutete, doch er rief kein einziges Mal nach mir.
    Du schreibst, ich hätte recht daran getan, in meinem Versteck zu bleiben, zusammengekauert im hohlen Stamm des Baums. Du zürnst unserem Vater, weil er ein hilfloses junges Mädchen kommen ließ, um ihm bei seiner Flucht zu helfen. Doch ich bin alles andere als hilflos und wie gern hätte ich mein Leben hingegeben, um das seine zu retten. Jedenfalls glaubte ich das, bis der Moment kam und ich ihn enttäuschte.
    Ich werde ihn nicht noch einmal enttäuschen.
    Schluss mit diesen elenden Grübeleien. Du fragst nach Neuigkeiten über Prag, vielleicht, weil Du hoffst, damit Erinnerungen an unsere so viel glücklichere Jugend wachrufen zu können. Die Pražský hrad mit ihren hohen Türmen ist so beeindruckend wie immer. Oft gehe ich morgens bei Sonnenaufgang über die Steinbrücke und sehe zu, wie die Moldau darunter hinwegfließt. Die Linde kommt mir jetzt höher und kräftiger vor als früher. Ich lege diesem Brief ein Blatt bei, damit auch Du den Geruch unserer Kindheit einatmen kannst.
    Das Blatt gab es nicht mehr; vermutlich war es schon vor Jahrhunderten zu Staub zerfallen. Aber ich wusste, warum sie es in den Brief gelegt hatte. Vor zwei Jahren hatte es einmal einen Tag gegeben, einen perfekten Märztag, der mindestens fünf Grad wärmer gewesen war, als der Frühling in New England hätte sein sollen. Einen Tag, an dem ich mit Adriane und Chris zusammen im Gras lag und dem leisen Gurgeln des Flusses zuhörte, Wasser, das eher ein Bach als ein Fluss und eher schlammig als klar war, aber im Sonnenschein sauber und tief aussah, einen Tag, an dem Wolkentiere über den Himmel marschierten, Paraden aus weißen Elefanten, Kaninchen und Drachen, einen Tag, an dem mir Adriane bis ins letzte Detail
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