Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Das bin doch ich

Das bin doch ich

Titel: Das bin doch ich
Autoren: Thomas Glavinic
Vom Netzwerk:
sind da, und alle sind betrunken und überdreht. Bernd sitzt unansprechbar in einer Ecke. Enrico, der Student, der gegenüber wohnt, fällt mir um den Hals, auf der anderen Seite umarmt mich seine Freundin Tanja. Sie ist so hinüber, daß sie schwuppdiwupp auf der Nase liegt. Wir helfen ihr hoch, Enrico setzt sie auf einen Barhocker. Ich frage, ob sie nicht vielleicht, wenn sie schon nicht nach Hause gehen will, lieber an einem Tisch sitzen würde, aber sie beginnen gleich fröhlich auf mich einzubrüllen, und mir bleibt nichts übrig, als mich dieser Atmosphäre von Dunkelheit, Unmoral und Rausch zu ergeben. Ich bestelle B-52.
    Alex, der Wirt, regt sich fürchterlich darüber auf, daß jemand in seinem Klo etwas an die Wand geschrieben hat: »Bitte, wer ist so verrückt und schreibt Samen an die Wand?« Er kann sich kaum beruhigen. Nicht, daß er wirklich wütend wäre, er kann sich nur nicht von dem Gedanken an einen Menschen befreien, der solche Dinge an Wände schreibt.
    Ich gehe auf die Toilette, es stimmt. Die ganze Wand ist unbeschriftet, keine Klosprüche, keine Graffiti, nur ein kleiner Schriftzug: Samen . Das heißt, eigentlich steht da Somen . Ich habe keine Ahnung, was ihn so erschüttert, er sollte froh sein, daß da nicht ganz andere Sachen stehen. Kurz habe ich den Verdacht, er könnte es selbst geschrieben haben.
    Zwei Stunden später bin ich betrunken. Ständig schmeißt jemand eine Runde, und man muß mittrinken, ob man will oder nicht. Ich will eigentlich. Mich stört nicht ein mal, daß Tanja ihr Glas umschüttet und jemandem ein Viertelliter Weißwein in den Schuh hineinrinnt. Es ist der rechte. Ich versuche das unangenehme Gefühl am Fuß zu ignorieren.
    Auch Enrico wird allmählich verhaltensauffällig. Ich kenne das bei ihm schon. Gerade hat er allen Ernstes gesagt: »Ich bin ein Ausländerfreund.« Ich weiß gar nicht, was die da um mich reden und wie er auf so etwas kommt. Ich lache.
    »Und Israel tötet Kinder«, sagt er da plötzlich neben mir.
    »Was?«
    »Na, sie haben im Libanon wieder mal Zivilisten bombardiert.«
    »Aber das heißt doch nicht, daß Israel Kinder tötet!«
    »Das ist ein Terrorstaat«, sagt Enrico.
    Ich stelle ihm einige scharfe Fragen, er sagt immer wahnsinnigere Sachen. Mir wird schlecht. Ich sehe sein freundlich-argloses Gesicht vor mir, und ich sehe darin den arabischen Laden am Naschmarkt, in den er so gern geht, das Falafelhaus ein paar Häuser weiter, wo er so gern mit dem Kurden Wasserpfeife raucht, und all die anderen Kneipen ringsum, wo er sich so links und korrekt fühlt, weil er mit Arabern raucht und säuft und ein Freund von ihnen ist, egal, was für Meinungen sie vertreten. Ich stehe vor diesem politisch korrekten Menschen, der es in Ordnung findet, daß in Nordisrael seit Jahren Woche für Woche Raketen neben Altersheimen und Kindergärten einschlagen, weil ja, so steht es geschrieben, Israel ein Aggressor ist. Ich sehe diesen Kerl vor mir, sehe, was ihn eigentlich antreibt, und aus mir bricht solcher Ekel, bricht solche Wut hervor, daß ich zu heulen anfange und aus dem Lokal laufe.
    Max Goldt hat über seine Gefühle beim Besuch eines KZ geschrieben. Er schildert, wie ihm die Tränen hochsteigen, und wie er sie unterdrückt, weil er nicht weiß, ob seine Gefühle lauter sind in diesem Moment. Und wie einige Monate später, er sitzt allein zu Hause, plötzlich die Tränen kommen, und da kann er dann Vertrauen zu sich und seinen Tränen haben.
    An diese Geschichte denke ich jetzt, während ich nach Hause gehe. Ich weiß nicht, was mit mir los ist, wieso wirft mich das jetzt so aus der Bahn?
    Ich rufe Daniel an. Er weiß auch nicht, wieso ich so durchgedreht bin und ins Telefon weine, aber er sagt: »Du bist wirklich sehr betrunken«, und tröstet mich, so gut man einen ausgeflippten Betrunkenen eben trösten und beruhigen kann. Wir reden über Antisemitismus, über seine Formen und Ursachen, es ist kein sehr erfreuliches Gespräch, aber durch Daniels sachlichen Ton verringert sich meine Hysterie auf das übliche Maß.
    Drei Uhr früh. Ich leere den Weißwein aus meinem Schuh ins Waschbecken, ziehe den tropfenden Strumpf aus und werfe ihn in den Wäschekorb. Ich ziehe mich bis auf die Unterhose aus. Dann drehe ich mich vom Spiegel weg, fixiere einen Punkt an der gekachelten Wand und schiebe den Slip runter. Mit zusammengekniffenen Augen steige ich in die Dusche. Ich drehe das Wasser auf, in jeder Sekunde eingedenk, auf keinen Fall nach unten schauen zu
Vom Netzwerk:

Weitere Kostenlose Bücher