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Dann mach ich eben Schluss

Dann mach ich eben Schluss

Titel: Dann mach ich eben Schluss
Autoren: Christine Fehér
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die Angst vor der langen, schweigenden Dunkelheit hinter ihrer angelehnten Tür, durch die sie manchmal das Rascheln der Bettdecken ihrer Eltern hört, weil auch sie nicht einschlafen können, nicht durchschlafen, es ist alles so falsch, so sollte es nicht sein, ihr Familienleben war nicht so geplant, dass Max verschwindet, allem ein Ende setzt. Der Familie, so wie sie war. Max hat sich in ihr nicht so wohlgefühlt, dass er sie erhalten wollte. Die Familie erhalten, das tun normalerweise Eltern.
    In ihrem Zimmer schaltet Natalie das Deckenlicht ein, es ist ihr zu hell und sticht ihr in die Augen, verstärkt das grelle Hämmern in ihren Schläfen, aber sie will noch nicht ins Bett, will nicht, dass es dunkel ist, die Dunkelheit lässt sie immerzu daran denken, dass auch Max kein Licht mehr sieht, nicht hier auf der Erde, vielleicht irgendwo, wo immer er jetzt ist, aber nicht hier, nicht das künstliche Licht im Zimmer, nicht die Sonne oder den Mond. Nicht dasselbe Licht, das sie sehen kann.
    Anders als früher legt sie ihre Sachen glatt auf den Stuhl neben ihrem Bett, schiebt Stifte und Papier auf ihrem Schreibtisch hin und her, lässt die Rollos herab, löscht schließlich doch das Licht, die Müdigkeit ist nicht mehr zu ertragen. Das Fenster bewegt sie in Kippstellung, um ein wenig Kontakt zur Außenwelt zu behalten, der leichte Hauch, der nun hereinweht erinnert Natalie daran, dass sie selbst eben noch draußen war und jederzeit wieder gehen kann. Ein bisschen vom Leben zurückerobern.
    Doch als sie endlich liegt und nur noch die Nacht um sie herum ist, sind die Bilder wieder da. Natalie muss sich zwingen, nicht an die ausgeschaltete Deckenlampe zu starren, die aus weißen Milchglaskugeln besteht, jedes Mal im Dunkeln stellt sie sich Max’ Schädel bei diesem Anblick vor, also kneift sie die Augen zu wie ein Kind nach einem Albtraum, aber das ist es ja auch, ein Albtraum, aus dem sie nie wieder erwachen wird, genau wie Max, der ebenfalls nie mehr aufwacht, nie mehr »Guten Morgen« zu ihr sagen wird.
    Ich hätte ihn damals nicht abwimmeln sollen, denkt sie wieder und wieder, wie in jeder Nacht, seit sie wieder so weit bei Bewusstsein ist, dass die Erinnerungen sie heimsuchen, die Wochen und Tage vor Max’ Selbstmord und das, was sie als ihre Schuld daran empfindet. Sie hat Jonathan nicht alles erzählt, noch nicht, konnte nicht. Es würde ihre Schuldgefühle nicht auslöschen, und die Tatsache, dass sie sie mit ihm teilen könnte, würde ihr keine Erleichterung verschaffen. Sie kann es nicht mehr rückgängig machen. Ich habe meinen Bruder weggeschickt und allein gelassen, als er mich am meisten brauchte, und jetzt kommt er nie mehr zurück, denkt sie.
    Es stimmt nicht, dass sie einen Filmriss hat. Natalie weiß alles noch ganz genau, jede Einzelheit dieser wenigen Minuten, die zu seinem Tod geführt haben mussten. Sobald sie aus dem künstlichen Koma, in das man sie im Krankenhaus versetzt hatte, wieder erwacht und bei halbwegs klarem Verstand gewesen war, kam alles zurück und verfolgt sie seitdem in jeder Nacht und auch tagsüber, egal was sie tut, auch an diesem Nachmittag und Abend, während sie mit Jonathan unterwegs gewesen war. Max’ Augen, als er zum Musiksaal gekommen war, um sie zu bitten, mit ihm nach Hause zu kommen. Das eindringliche Flehen in seiner Stimme. Er hatte solche Angst vor dem Vater gehabt, weil er sich heimlich an jener Kunstschule angemeldet hatte, die sie Jonathan gegenüber heute Abend erwähnt hat, es war klar gewesen, dass der Vater durchdrehen würde, aber Max hatte es trotzdem getan, hatte es einfach gemacht, das allein war für ihn schon viel gewesen. Ich hätte mitgehen sollen, kreist es wieder in ihrem Kopf; wenn ich nur mitgegangen wäre. Meine Argumente zählen bei Papa auch nicht, aber Max hätte jemanden an seiner Seite gehabt, sich nicht so verlassen gefühlt. Sie war nicht gegangen, weil sie mit dem Schulorchester geprobt hatte, wie wichtig war ihr das erschienen, wichtig, wichtig. Es war nicht wichtiger als Max, sie hatte seine Not doch gesehen, sie hätte mitgehen sollen, was ist schon eine Orchesterprobe gegen das Leben ihres Bruders, gar nichts ist sie dagegen. Sie hätte mitgehen und dem Vater mit drei kraftvollen Sätzen klarmachen sollen, dass weder Maximilian noch sie die Marionetten ihrer Eltern seien, und dann hätte Max seinen Traum vielleicht
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