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Damaskus im Herzen.. - und Deutschland im Blick

Titel: Damaskus im Herzen.. - und Deutschland im Blick
Autoren: Carl Hanser Verlag
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Zeit, der schlaue Saturn, er heilt uns von jeder Wunde, um uns mit seiner Sense bald wieder eine neue Wunde ins Herz hineinzuschneiden. Aber nun, da Sie fertig sind, habe ich eine Frage, wie haben Sie als Araber michkennen gelernt? Es rührt mich sehr, dass ein Sohn von Damaskus mich interviewt.
    R. S. (sich erinnernd): Ja genau ich habe es fast vergessen, Ihnen von der Lorelei zu erzählen. Nun, ich war in meiner Jugend Kommunist und habe Ihr Weberlied bereits in Damaskus in einer miserablen Übersetzung gelesen, trotzdem fand ich es gut, doch Ihren Namen vergaß ich bald wieder. In Deutschland angekommen, lernte ich im Sprachinstitut das Lied von der Lorelei und hielt Heinrich Heine für einen Dichter volkstümlicher Schnulzen, doch bald bekam ich Ihr geniales Werk Deutschland, ein Wintermärchen als Geschenk. Welch ein Genuss! Und dann fuhr ich nach Aachen, wo ich an einer Untergrundzeitschrift arabischer Oppositioneller mitgearbeitet habe, und es regnete an dem Tag in Aachen, und die Straßen waren leer und langweilig, und ich wartete eine Ewigkeit auf einen vergesslichen Syrer, der mich abholen sollte. Plötzlich erschien ein Hund …
    H. H. (lacht): Ich weiß, was jetzt kommt …
    R. S. (lacht): Ja, genau das. Ich stand im Regen und hielt dem Hund Ihr Gedicht vor, das ich auswendig konnte:
     
    Zu Aachen, im alten Dome, liegt
    Carolus Magnus begraben.
    (Man muß ihn nicht verwechseln mit Karl
    Mayer, der lebt in Schwaben.)
     
    Bis zu der Stelle:
     
    Zu Aachen langweilen sich auf der Straß
    Die Hunde, sie flehn untertänig:
    Gib uns einen Fußtritt, o Fremdling, das wird
    Vielleicht uns zerstreuen ein wenig.
    Ich bin in diesem langweilgen Nest
    Ein Stündchen herumgeschlendert.
    Sah wieder preußisches Militär,
    Hat sich nicht sehr verändert.
     
    H. H.: Und haben Sie dem Hund den Wunsch erfüllt?
    R. S.: Nein, aber der Syrer bekam eine verbale Ohrfeige für die zweistündige Verspätung und die noch blödere Rechtfertigung. Doch Sie schloss ich seit diesem Tag ins Herz. (Pause) Leben Sie wohl, Harry Heine.
    H. H.: Leben Sie wohl, mein Freund, und auf Wiedersehen, sagen Sie denen in Deutschland, die mich einen Zerrissenen nennen, dass ich vielleicht der Ganzeste bin. Und verlieren Sie in Deutschland nicht Ihr Lachen!
     
    Bemerkung: Heines Antworten sind zum größten Teil Zitate aus seinem Werk (Heinrich Heine, Sämtliche Schriften, hrsg. von Klaus Briegleb, Carl Hanser Verlag, München 1976).

ALS DIE STEINE FLÜGGE WURDEN
    Offener Brief an David Grossman über sein Buch Der gelbe Wind
     
    Mannheim, Juli 1988
     
    Lieber David Grossman,
     
    abgesehen von einigen wenigen Propheten, die den Flug der Steine vorausahnten, hat der Aufstand in den besetzten Gebieten uns alle überrascht. Heute kenne ich vielleicht eine der elementaren Ursachen unserer Überraschung: Die Jugendlichen, die die größte Last des Aufstands tragen, sind an etwas reich, woran Juden und Araber arm sind: ihre enge Beziehung zur Gegenwart. Wer das Handeln und die Aufrufe der Aufständischen aufmerksam verfolgt, dem fällt das ungeheuer große Gewicht der Gegenwart auf. Vergangenheit und Zukunft besetzen nur eine Randstellung. Also eine Umkehrung des arabischen und jüdischen Verhaltens im Umgang mit den Fragen des politischen Kampfes.
    Araber und Juden haben die Gabe eines guten Gedächtnisses. Wenn man aber ein gutes Gedächtnis hat, so kann man sich die Bilder der Vergangenheit genau merken, so genau, dass sie dem eigenen Ideal immer ähnlicher werden. Erreichen sie es, so werden sie für alle Zeiten zementiert. Verglichen mit der grauen Gegenwart, lässt es sich in diesem Paradies verdammt gut leben.
    Ein gutes Gedächtnis ist aber nicht nur eine Gnade, sondernauch ein Fluch. Es gebärt, sich um die Gegenwart herummogelnd eine Zukunft, die im Glanz ihrer Farben die paradiesische Vergangenheit übertrifft. Wer konnte genauere Bilder vom Paradies malen als die Araber und Juden? Mitten im Sande der Wüste, halb verhungert und verdurstet, ließen unsere Vorfahren in ihren Köpfen die Lämmer mit den Wölfen spielen und Flüsse mit Milch und Honig fließen. Sie trugen ja ihr Paradies mit auf Reisen.
    Mit diesem Problem der Veränderung oder Mumifizierung durch die Zeit beschäftige ich mich seit einer Weile. Vor etwa zwei Jahren fragte mich Dan Diner, während wir spazieren gingen, woran ich arbeite. Ich erzählte ihm von einer Geschichte. Sie spielt gleichzeitig in mehreren Epochen. Ich schildere in dieser Geschichte meinen Besuch in
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