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Daddy Langbein

Daddy Langbein

Titel: Daddy Langbein
Autoren: Jean Webster
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eigenen engelhaften Kleinen aus Zimmer F zu einem Aufsichtsrat frech gewesen?
    Die untere lange Halle war nicht erleuchtet, und als sie herunterkam, stand ein verspäteter Aufsichtsrat im Fortgehen in der offenen Tür zur Einfahrt. Jerusha erfaßte nur einen vorbeihuschenden Eindruck von dem Mann — und der Eindruck bestand fast nur aus Länge. Er winkte einem Auto, das in der runden Anfahrt wartete. Indem es ansprang und geradewegs anfuhr, warfen die blendenden Scheinwerfer den Schatten dieses Mannes scharf gegen die innere Wand. Der Schatten zeigte grotesk verlängerte Beine und Arme, die den Boden und die Wand des Korridors entlangliefen. Er sah ,. weiß der Himmel, wie ein riesiger, zitternder Daddy-Long-Legs aus 1 ).
    Über Jerushas sorgenvolles Gesicht ging ein schnelles Lachen. Sie besaß von Natur eine sonnige Seele, und sie hatte von jeher den kleinsten Vorwand ergriffen, sich zu amüsieren. Wenn'man aus der bedrückenden Tatsache eines Aufsichtsrates irgendwelches Vergnügen schöpfen konnte, um so besser. Sie war auf dem Wege zum Büro durch den kleinen Vorfall erheitert worden und zeigte Mrs. Lippett ein lächelndes Gesicht. Zu ihrer Überraschung war auch die Vorsteherin, wenn nicht gerade lächelnd, so doch wenigstens gnädig; ihr Ausdruck war fast so freundlich wie der, den sie für Besucher aufsetzte.
    „Setz dich, Jerusha, ich habe dir etwas zu sagen.“
    Jerusha sank in den nächsten Stuhl und wartete mit einem Anflug von Atemlosigkeit. Ein Auto blitzte am Fenster vorbei. Mrs. Lippett blickte ihm nach.
    „Hast du den Herrn bemerkt, der gerade fortfuhr?“
    „Ich sah seinen Rücken.“
    „Er ist einer unserer vermögendsten Aufsichtsräte und hat zur Unterstützung der Anstalt große Summen gegeben. Es ist mir nicht gestattet, seinen Namen zu nennen. Er verlangte ausdrücklich, ungenannt zu bleiben.“
    Jerushas Augen weiteten sich; sie war nicht gewohnt, ins Büro geholt zu werden, um die Überspanntheiten der Aufsichtsräte mit der Leiterin zu besprechen.
    „Dieser Herr hat ein Interesse für einige unserer Buben gezeigt. Du erinnerst dich an Charles Benton und Henry Freize? Sie wurden beide von Mr. — mm — von diesem Aufsichtsrat ins College geschickt, und beide haben das so freigebig für sie ausgelegte Geld mit harter Arbeit und Erfolg zurückgezahlt. Eine andere Bezahlung wünscht der Herr nicht. Bisher bezog sich seine Wohltätigkeit nur auf Buben; es war mir nie möglich, ihn auch nur im leisesten für irgendwelche Mädchen der Anstalt zu interessieren, so verdient diese auch sein mochten. Er hat, wie ich dir verraten kann, für Mädchen nichts übrig.“
    „Nein, Frau Oberin“, murmelte Jerusha, da hier eine Antwort erforderlich schien.
    „Heute kam bei der planmäßigen Sitzung die Frage deiner Zukunft auf.“
    Mrs. Lippett ließ einen Augenblick des Schweigens eintreten. Dann fuhr sie in ihrer langsamen tranigen Art, die für die plötzlich sich spannenden Nerven ihrer Zuhörerin äußerst belastend war, fort:
    „Wie du weißt, werden gewöhnlich die Kinder nach dem sechzehnten Jahr nicht hierbehalten. In deinem Falle wurde jedoch eine Ausnahme gemacht. Du hattest die Schule mit vierzehn beendet, und da du beim Lernen so gut warst — abgesehen allerdings vom Benehmen —, so wurde beschlossen, dich in die Oberschule des Dorfes gehen zu lassen. Die hast du nun beendet, und natürlich kann die Anstalt nicht länger für deinen Lebensunterhalt aufkommen. Du hast sowieso schon zwei Jahre mehr als die meisten.“
    Mrs. Lippett übersah die Tatsache, daß Jerusha während dieser zwei Jahre für ihren Unterhalt schwer gearbeitet hatte, daß die Notwendigkeiten der Anstalt gegenüber der Ausbildung immer die Vorhand erhielten, und daß sie an Tagen wie diesem zum Putzen zu Hause bleiben mußte.
    „Wie gesagt, die Frage deiner Zukunft wurde behandelt, und deine Vergangenheit wurde durchgesprochen — gründlich durchgesprochen.“
    Mrs. Lippett warf vorwurfsvolle Blicke auf die Angeklagte vor dem Gericht, und die Angeklagte sah schuldbewußt aus, weil dies offenbar erwartet wurde — nicht weil ihr irgendwelche außergewöhnlich schwarzen Seiten in ihrer Geschichte bewußt waren.
    „Natürlich wäre das Normale für jemand wie dich, dir eine Stellung zu verschaffen. Aber in bestimmten Fächern warst du in der Schule gut. Es scheint, daß deine Arbeit in Englisch sogar glänzend war. Miß Pritchard, die in unserem Besuchskomitee ist, ist außerdem im Schulausschuß. Sie hat mit
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