Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Corvidæ / Haus der Jugend [Twindie: Zwei Romane – ein Preis] (German Edition)

Corvidæ / Haus der Jugend [Twindie: Zwei Romane – ein Preis] (German Edition)

Titel: Corvidæ / Haus der Jugend [Twindie: Zwei Romane – ein Preis] (German Edition)
Autoren: Simone Keil , Florian Tietgen
Vom Netzwerk:
ja gestern schon gesehen. Rokan, Etienne und Gabin, der Alte. Er wohnt mit seinem Sohn Jacques in dem kleinen Haus gleich neben dem Kaninchen.“
    Ich zog verwirrt die Augenbrauen hoch. Kaninchen?
    „Ach so“, lachte ich. „Die Gaststätte.“
    Chloé nickte. „Jacques hilft dem Cavalier im Stall und geht mir gelegentlich zur Hand, wenn etwas zu reparieren ist.“
    „Etienne ist mir unheimlich“, sagte ich.
    „Er ist wohl zu oft mit seinen Pferden zusammen.“ Sie bestrich eine Scheibe Brot mit Butter. „Und er ist genauso störrisch.“
    Die Beschreibung passte zu ihm. In seinen Blicken lag etwas, das ich nicht benennen konnte. Ein Flackern. Wie bei einem Wildpferd in Gefangenschaft.
    „Dann sind da noch Marie und Jean-Claude. Die beiden sind alt und gehen kaum noch unter Leute. Sie wohnen hinter der Kirche, zusammen mit ihren Katzen.“
    Das waren sieben. Mit keinem Wort hatte Chloé die Frau aus dem kleinen Holzhaus erwähnt. Ich rutschte ungeduldig auf meinem Stuhl herum.
    Chloé sah aus dem Fenster und ihre Gesichtszüge wurden weicher.
    „Und natürlich Agnès. Als noch Reisende durch unser Dorf kamen und rasteten, hat sie mir in der Wirtschaft ausgeholfen. Die Zimmer geputzt, das Essen bereitet. Aber nachdem … Sie ist gern allein.“
    „Hat sie denn keine Familie?“, fragte ich.
    „Jean-Claude hat sie im Moor gefunden, da muss sie etwa zwölf Jahre alt gewesen sein. Er und seine Frau haben sie aufgenommen und sich um sie gekümmert, als wäre sie ihr eigenes Kind.“
    Mein Magen verkrampfte sich. „Aber wer hat ihr das angetan?“
    „Wir wissen es nicht. Sie hat noch nie ein Wort gesprochen.“
    „Habt ihr denn nicht die Polizei verständigt oder nach ihren Eltern gesucht?“
    Chloé sah mich verständnislos an. „Sie ist ein Kind des Moors. Kinder des Moors werden von niemandem vermisst.“
    Sie klatschte in die Hände. „Ich plappere und plappere und dabei wartet die Arbeit auf mich.“
    Eilig räumte sie den Tisch ab und verschwand in der Küche. Kurze Zeit später hörte ich sie singen.
    Ich trat ans Fenster und blickte über den Hof. „Agnès“, flüsterte ich. Auf dem Dach ihres Hauses hatten sich zwei Raben niedergelassen und starrten zu mir herüber. Dann ging ich nach oben. Ich musste nach Lizzie sehen.

4
    Z wischen all den Kissen und der dicken Daunendecke wirkte Lizzie klein und zerbrechlich. Sie erinnerte mich an ein Vogeljunges in seinem Nest. Ich setzte mich auf die Bettkante.
    „Glaubst du, dass es für jeden den passenden Menschen gibt?“, flüsterte sie mit geschlossenen Augen.
    „Ganz sicher.“
    „Aber was, wenn man ihn nicht findet?“ Sie legte den Kopf in meinen Schoß. „Was, wenn man ihn am falschen Ort sucht, oder zur falschen Zeit? Und was, wenn man ihn findet und nicht merkt, dass er es ist?“
    „Du wirst ihn finden“, sagte ich. „Und du wirst wissen, dass er es ist.“
    Sie zog die Decke bis zum Kinn und ich strich ihr eine Strähne aus der Stirn. Als wir noch Kinder waren, hatten wir uns alles erzählt. Abends, wenn wir schon fast eingeschlafen waren, hatten wir uns unsere Geheimnisse anvertraut. Unsere Wünsche, unsere Ängste. Das hatte mir gefehlt.
    „Reden wir von jemand bestimmten?“, hakte ich nach.
    Sie schlug die Decke zurück und sprang aus dem Bett.
    „Ich würde gerne reiten lernen. Was hältst du davon?“
    Ich lachte laut auf und warf ihr ein Kissen an den Kopf. „Du bist die verrückteste Schwester, die man haben kann!“
    Sie grinste und umarmte das Kissen vor ihrer Brust. „Also, kommst du mit?“
    „Keine Chance“, sagte ich. „Mich bekommst du nicht auf ein Pferd, das musst du alleine angehen.“
    Sie hatte bereits ihre Hose und das T-Shirt aus dem Rucksack gekramt und zog sich an. Dann drückte sie mir einen Kuss auf die Wange. „Ich habe dich vermisst“, sagte sie.
    Bevor ich etwas erwidern konnte, war sie aus der Tür geschlüpft und ich hörte sie die Treppe hinunter hasten.
    Der Saum meines Kleides war schmutzig und ich zog meine alten Sachen wieder an. Ich würde Chloé fragen, wo ich es waschen könnte, aber das hatte Zeit. Zuerst musste ich etwas herausfinden. Ich musste wissen, warum die fremde Frau – Agnès – eine solche Anziehungskraft auf mich ausübte.
    Vielleicht hatte es mit meinem Erlebnis mit Chloé zu tun, aber vielleicht war es auch etwas anderes. Doch das konnte ich nur herausfinden, wenn ich sie noch einmal traf. Also ließ ich das Kleid auf dem Stuhl liegen und ging nach unten.
    Ein leichter Wind
Vom Netzwerk:

Weitere Kostenlose Bücher