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Commissario Tron 5: Requiem am Rialto

Commissario Tron 5: Requiem am Rialto

Titel: Commissario Tron 5: Requiem am Rialto
Autoren: Nicolas Remin
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Menge schob? Irgendwie kam sie Tron
bekannt vor, doch um Bossi handelte es sich nicht. Der Ispettore
hatte zwar heute ebenfalls eine blonde Perücke auf dem Kopf,
aber er hatte keine Handtasche und trug eine Krinoline aus
dunkelblauer Seide und einen weißen Fächer aus
Straußenfedern.
    Rätsel über
Rätsel, dachte Tron, dunkle Geheimnisse, die sich erst um
Mitternacht, bei der allgemeinen Demaskierung, aufklären
würden. Das aber störte ihn wenig, denn der unangenehme
Teil des Balls lag jetzt hinter ihm — der traditionelle
Eröffnungstanz, bei dem es fast zu einer Katastrophe gekommen
war. Pünktlich um halb neun hatten Tron und seine Mutter den
Ball wie in jedem Jahr mit den Figuren des Aimable Vainqueur eröffnet. Tron
hebte Menuette, aber er hasste es, sie öffentlich zu tanzen -
speziell dann, wenn fünfzig Augenpaare kritisch beobachteten,
ob sein pas
menu auch
die erforderliche Leichtfüßigkeit hatte. Wie
befürchtet, war es bei einer ronde, einer Drehung, zur Katastrophe
gekommen. Die Contessa hatte sich nach links gedreht, er selbst
irrigerweise nach rechts. Bei dem Versuch, seinen Fehler zu
korrigieren, war er mit den Füßen durcheinandergeraten
und — nun ja, nicht ganz gestürzt, aber halb. Zwar war
es ihm gelungen, seinen halben Sturz in eine plié umzudeuten, eine
Beugung des Knies. Die aber war völlig fehl am Platz und wurde
durch ein demi-coupé, eine
anschließende Streckung des Beines, nur notdürftig
kaschiert. Der Beifall des Publikums war äußerst
ironisch gewesen.
    Jetzt hatte die Musik
wieder eingesetzt, und Tron sah, wie die Paare sich formierten, um
gemeinsam auf die Tanzfläche zu schreiten. Eigentlich hatte er
vorgehabt, die Principessa zum Tanz aufzufordern, musste dann aber
feststellen, dass sie bereits besetzt war — sie verschwand
gerade laut lachend am Arm der Baronin Spaur. Also beschloss er,
sich in die sala degli arrazzi, das Gobelinzimmer, zu
begeben, in dem traditionellerweise das kalte Buffet aufgeschlagen
wurde. Ob noch etwas von dem köstlichen, auf zerstoßenem
Eis gebetteten Zitronensorbet vorhanden war? Diesem
    
    Gedicht von Sorbet, das auf
seinen Wunsch hin bereitet worden war und auf das er sich den
ganzen Abend gefreut hatte? Doch als Tron im Gobelinzimmer —
eine Schale und einen Löffel bereits in der Hand — vor
das Buffet trat, musste er feststellen, dass ihm jemand
zuvorgekommen war. Das große, mit Zitronenlaub dekorierte
Glasbehältnis war leer, und der Täter stand direkt
daneben. 
    Es handelte sich um
eine blonde Signora mit einer roten bautta und ausgesprochen männlich
wirkenden Händen — es war die Frau, die ihm bereits in
der sala aufgefallen war. In der rechten
Hand hielt sie einen Löffel, in der linken eine Glasschale, in
der sich eine unverschämt große Portion Sorbet befand
— der ganze Rest. Tron beschränkte sich darauf, eine
eisige Verbeugung anzudeuten, obwohl er eigentlich Lust gehabt
hätte, den Burschen auf der Stelle zu erschießen.
Jawohl, den Burschen. Denn dass es sich hier
um einen Mann handelte, war jetzt völlig klar. Keine Frau
hätte die Nerven gehabt, wie ein wildes Tier über das
Zitronensorbet herzufallen. Als Tron sich wütend abwandte,
stieg ihm der Duft von bouquet à la
Maréchal in die Nase. Das löste zum
zweiten Mal eine dunkle Erinnerung in ihm aus, die er nicht
einordnen konnte.

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    Bemerkenswert, dachte
er, wie souverän sein Organismus auf den Schock reagiert
hatte, den er eben verarbeiten musste — kein
verräterisches Erbleichen, kein plötzliches Zittern der
Hände, nur eine leichte Anwandlung von Flauheit im Magen. Als
er vor dem Buffet stand, eine Schale Zitronensorbet in der Hand,
war aus heiterem Himmel der Commissario neben ihm aufgetaucht. Der
Conte hatte bei seinem Anblick gestutzt, und seine Miene hatte sich
schlagartig verdüstert. Dann konnte er förmlich sehen,
wie Tron die Maske des kultivierten Gastgebers vom Gesicht rutschte
und auf einmal reine Mordlust in seinen Augen stand - ein Anblick
zum Fürchten. Doch ein paar Sekunden später hatte sich
der Commissario kühl verbeugt und war ohne ein Wort aus dem
Zimmer verschwunden.   
    Ein Irrer, dachte er,
indem er einen erleichterten Seufzer ausstieß. Vermutlich,
dachte er weiter, musste man in diesem Beruf irgendwann
verrückt werden. Mit kleinen Verschrobenheiten begann es, dann
kamen die verstörten Blicke, verbale Ausfälle folgten,
schließlich unmotiviertes Werfen mit Tassen und Tellern
— bis der Familie am Ende nichts
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