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Codename Hélène

Codename Hélène

Titel: Codename Hélène
Autoren: Michael Juergs
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Korrespondenten der großen Zeitungen unterhält. Heute ist sie auf sich gestellt, ist allein. Der Auftrag scheint aber auch für eine Anfängerin keine allzu große Herausforderung zu sein. Sie muss nur aufschreiben, was sie sieht. Tausende stehen am Straßenrand, um den König zu begrüßen. Nancy Wake drängt sich zwischen den Menschen hindurch in die vorderste Reihe.
    Ein paar Tage vorher hatte der französische Nachrichtendienst vor der Gefahr eines Attentats gewarnt, geplant von bereits im Land versteckten Mordkommandos der kroatischen Ustascha-Bewegung. Angeblich drohten die, in Marseille zuzuschlagen. Mehr noch: Der italienische Geheimdienst soll bei der Planung eines Anschlags geholfen haben. Profis also. Der Verdacht ist begründet und liegt sozusagen nahe, denn Italiens Diktator Benito Mussolini würde von einem Machtvakuum beim Nachbarn jenseits der Adria profitieren. Aber Alexander I., selbst durch einen Staatsstreich an die Macht gekommen und über Serben, Kroaten, Slowenen als »Königsdiktator« herrschend, also kein unbedingt lupenreiner Demokrat, ließ sich nicht dazu überreden, in einem geschlossenen, sicheren Wagen ins Rathaus zu fahren. Er wollte das Bad in der Menge und bestand darauf, in einem Landaulet, einer Limousine mit aufklappbarem Cabrioletverdeck im Bereich der Fondsitze, chauffiert zu werden.
    In dem sitzt er jetzt, neben dem französischen Außenminister Louis Barthou, der ihn unten an der Gangway des Kreuzers »Dubrovnik« mit allen Ehren empfangen hatte. Vor und hinter der Staatskarosse reitet eine Ehrengarde der Armee. Hurra-Rufe links und rechts vom Straßenrand. Es ist kurz nach 16 Uhr an diesem 9 . Oktober 1934 , kaum hundert Meter sind zurückgelegt auf der Canebière, als passiert, wovor gewarnt worden war: das Attentat.
    Und Nancy Wake erlebt es live: Ein Mann stürzt auf das Auto zu, Revolver in der Hand, schießt auf die Insassen. Der Chauffeur lässt das Steuer los, packt ihn an den Haaren, reißt ihn zurück. Ein Offizier reitet heran mit erhobenem Säbel und schlägt auf den Schützen ein, aber es ist schon zu spät. Der König und der Minister sind beide getroffen, der Attentäter, bereits schwer verwundet, wird von den Leibwächtern des Monarchen bewusstlos geprügelt. Er stirbt drei Stunden später. Alexander I. verblutet noch vor Ort. Barthou wird zwar ins Krankenhaus geschafft, doch auch für ihn kommt jede ärztliche Hilfe zu spät.
    Die junge Reporterin rennt, so schnell sie es auf ihren hochhackigen Schuhen schafft, durch die in Panik fliehende Menge, zurück in ihr Hotel. Es ist das »du Louvre et de la Paix«, gilt als das beste Quartier der Stadt und liegt etwa auf halber Wegstrecke zwischen Bahnhof und Altem Hafen an der Canebière. In Nancy Wakes Leben wird es noch oft eine Rolle spielen. Architektonisch gehört das Grandhotel zu den fünf, sechs schönsten Gebäuden Marseilles. Vier überdimensionale Figuren verkörpern am Eingang symbolisch die Weltläufigkeit der Hafenstadt. Die Sphinx steht für Amerika, der Elefant für Asien, das Kamel für Afrika und der Fisch für Europa. Sie gibt telefonisch nach Paris durch, was sie gerade erlebt hat, beschreibt als Augenzeugin jenes Attentat, das am folgenden Tag die Schlagzeilen der Weltpresse bestimmen wird. Der Name des bulgarischen Terroristen, Wlado Georgiew Tschernosemski, unterwegs mit einem gefälschten Pass auf den Namen Peter Kelemen, der bei seiner Attacke von einem Kamerateam gefilmt worden war, wurde erst am Tag danach bekannt gegeben. Da saß Nancy Wake schon wieder in Paris mit ihren journalistischen Freunden zusammen in einer Brasserie und ließ sich bei ein paar Flaschen Wein für ihren Scoop feiern. Ein Fest, wie sie es liebte.
    Paris war nicht nur an diesem besonderen Abend, sondern Tag für Tag ihr Fest fürs Leben. Nancy Wake bewegte sich zwar stets am Rande des Existenzminimums, near the breadline , aber das bereitete ihr keine schlaflosen Nächte – solche Zustände war sie gewöhnt von Kindheit an. Sie wohnte in einer billigen kleinen Mansarde unterm Dach, nahe des Louvre, in der Rue Sainte-Anne. Die Miete musste, wie allgemein üblich damals, zweimal jährlich jeweils für sechs Monate im Voraus bezahlt werden. Kurz vor diesen Terminen hatte sie dann doch »ein paar schlaflose Nächte«, weil stets noch ein paar Francs fehlten an der nötigen Summe, aber danach, wenn alles gut gegangen war, lebte sie wieder sorglos in jeden neuen Tag hinein.
    Ein Bad gab es nicht, sie durfte das der
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