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Clovis Dardentor

Clovis Dardentor

Titel: Clovis Dardentor
Autoren: Jules Verne
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ergrauten
    Schädel bis an die Ohren heruntergezogen, hielt er in der ei-
    nen Hand einen Regenschirm in glänzendem Überzug und
    in der anderen eine Reisedecke mit Tigermuster, die einge-
    rollt und mit einem Doppelriemen umschnürt war.
    Die Mutter erfreute sich des Vorzugs, ihren Gatten um
    mehrere Zentimeter zu überragen. Es war eine trockene,
    magere, stocksteife Frau mit gelblichem Teint, hochmüti-
    gem Ausdruck – jedenfalls infolge ihrer Körperlänge –, mit
    einer Stirnbinde um das Haar, dessen Schwarz, wenn man
    — 11 —
    sich den 50ern nähert, immer etwas Verdächtiges hat, ei-
    nem festgeschlossenen Mund und mit Wangen, die stellen-
    weise von leichten Bläschen besetzt waren. Die ganze Per-
    son war in einen braunwollenen, mit hellgrauem Pelzwerk
    besetzten Radmantel gehüllt. Eine Tasche mit Stahlbügel
    hing an ihrem rechten Arm und am linken ein Muff aus fal-
    schem Marder herab.
    Der Sohn war so ein Bursche von vielleicht 21 Jahren,
    mit nichtssagendem Ausdruck und langem Hals, der, zu-
    sammen mit anderen Eigenschaften, oft das Kennzeichen
    angeborener Beschränktheit ist, mit blondem, eben auf-
    keimendem Schnurrbart, blöden Augen mit Lorgnon für
    Kurzsichtige, einer schlottrigen Haltung und mit dem Aus-
    sehen eines Wiederkäuers, der nicht wußte, was er mit sei-
    nen Armen und Beinen anfangen sollte, obwohl er Tanz-
    und Anstandsunterricht genossen hatte – mit einem Wort,
    einer jener Erzschwachköpfe, die zu nichts nütze sind und
    die, um einen Ausdruck aus der Algebra zu gebrauchen, am
    treffendsten mit einem Minuszeichen zu versehen wären.
    Das war diese kleinbürgerliche Familie. Die Leute lebten
    von einer 12.000 Francs betragenden Rente, die von zwei
    Erbschaften herrührte, und hatten niemals etwas getan, sie
    zu vergrößern oder zu verkleinern. Aus Perpignan gebür-
    tig, bewohnten sie dort ein altes Haus auf der Popinière, die
    sich am Têtefluß hinzieht. Wenn man sie in den Räumen
    der Präfektur oder der Steuereinnahme aufrief, wurden sie
    Herr und Frau Désirandelle und Herr Agathokles Désiran-
    delle genannt.
    — 12 —
    Am Kai und vor der Landungsbrücke, über die man zur
    ›Argèlès‹ ging, angelangt, blieben sie stehen. Sollten sie so-
    fort aufs Schiff gehen oder bis zum letzten Augenblick vor
    der Abfahrt warten? . . . Wirklich, eine ernste Frage.
    »Wir sind viel zu zeitig gekommen, Herr Désirandelle«,
    murrte die Dame, »das ist bei dir aber immer so . . .«
    »Und du, Frau Désirandelle, hast an all und jedem etwas
    auszusetzen«, antwortete der Mann in demselben Ton.
    Das Pärchen nannte sich nie anders, als »Herr« und
    »Frau« Soundso – öffentlich, wie unter vier Augen, was sie
    für besonders vornehm hielten.
    »Vorwärts, wir wollen an Bord gehen«, schlug Herr Dé-
    sirandelle vor.
    »1 Stunde vorher«, rief Frau Désirandelle, »wo wir nach-
    her noch 30 Stunden lang auf dem Schiff bleiben müssen,
    das schon jetzt wie eine Korkscheibe schaukelt!«
    Obgleich das Meer ruhig war, bewegte sich die ›Argè-
    lès‹ in der Tat ein wenig, und zwar infolge einer leichten
    Dünung, die von dem alten Bassin trotz eines 500 Meter
    langen, einige Kabellängen von der Durchfahrt errichteten
    Wellenbrechers nicht ganz ferngehalten wird.
    »Wenn uns schon im Hafen die Furcht vor der Seekrank-
    heit plagt«, ergriff Herr Désirandelle wieder das Wort, »dann
    wär’s besser gewesen, diese Reise ganz zu unterlassen.«
    »Glaubst du, ich hätte ihr jemals zugestimmt, Herr Dési-
    randelle, wenn es sich dabei nicht um Agathokles handelte
    . . .«»Schon gut, da sie nun einmal beschlossen ist ...«
    — 13 —
    »Hat man doch gar keine Ursache, sich früher als nötig
    einzuschiffen.«
    »Wir müssen aber unser Gepäck unterbringen, unsere
    Kabine einnehmen, unsere Plätze im Speisesalon wählen,
    wie mir Dardentor angeraten hat . . .«
    »Du siehst ja aber«, erwiderte die Dame trockenen Tons,
    »daß dein Dardentor selbst noch nicht eingetroffen ist.«
    Sie erhob sich, um ihr Gesichtsfeld zu erweitern, und
    ließ die Blicke über den Molo von Frontignan schweifen.
    Die mit dem glänzenden Namen Dardentor bezeichnete
    Person war jedoch nicht zu sehen.
    »Ach«, rief Herr Désirandelle, »du weißt ja, das ist so
    eine Mode! – Er wird erst im letzten Augenblick erschei-
    nen! Unser Freund Dardentor setzt sich immer der Gefahr
    aus, daß man ohne ihn abfährt.«
    »Nun, ich dachte«, rief Frau Désirandelle, »wenn das
    jetzt zuträfe . . .«
    »Dann
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