Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Chuzpe

Chuzpe

Titel: Chuzpe
Autoren: Andreas Pittler
Vom Netzwerk:
seinem Weinglas und sich dann über das Essen her. Da der Wein ihm mundete, bestellte er ein weiteres Viertel, während er gleichzeitig mit seiner Lektüre fortfuhr. Er las, dass Prag mobilmachte und Aushebungen wegen neuerlicher Kriegsgefahr in Schlesien vornahm. Die Regierung Kramaˇr sorgte sich, dass Polen seinen Anspruch auf Tˇešín mit Gewalt unterstreichen wollen würde, und trachtete daher danach, für den Ernstfall gewappnet zu sein. Gleichzeitig wurde der neue Staat auch im Süden bedroht, da Ungarn auf einem Teil der Slowakei bestand. Und die Ungarnwiederum meinten sich gegen die Rumänen wehren zu müssen, die Siebenbürgen für sich reklamierten.
    Das war ja klar gewesen, dachte Bronstein. Österreich war ein riesiges Reich mit vielen Völkern gewesen. Die einigende Klammer hatte dafür gesorgt, dass alle Nationen mehr oder weniger friedlich zusammengelebt hatten. Nun aber, da dieses einigende Staatsband zerschnitten war, gingen alle Nachfolgekonstrukte einander gegenseitig an die Gurgel, weil sie einen möglichst großen Teil dieses Erbes in ihren Besitz bringen wollten. So war es noch jedes Mal in der Geschichte gewesen, wenn etwas Großes zerfiel. Bronstein trank noch etwas Wein und blätterte um. Der deutsche Heereschef Mackensen war mit den Resten seiner Armee auf dem Rückweg in die Heimat. Er führte 2.000 Mann in 300 Autos von Arad nach Oradea, las Bronstein. Das musste in dieser Gegend eine merkwürdige Karawane abgeben, überlegte er. Dort, in diesen hinteren Winkeln der Monarchie, hatte man wahrscheinlich überhaupt noch nie ein Automobil gesehen, und jetzt rollten gleich 300 davon durch diese archaische Landschaft. Bronstein konnte sich gut vorstellen, wie die Menschen sich dort angstvoll bekreuzigten.
    Mit gewisser Wehmut nahm er weiters zur Kenntnis, dass Olmütz nun vom tschechischen Staat in Verwaltung genommen worden war. Österreich hatte eigentlich diese Stadt für sich beansprucht, weil sie zu zwei Dritteln von Deutschsprachigen bewohnt war, doch lag sie wie eine Insel in rein tschechischem Gebiet, und so war eigentlich absehbar gewesen, dass Österreich diese traditionsreiche Metropole, in der einst Franz Joseph zum Kaiser gekürt worden war, nicht würde halten können.
    Deutschböhmen rang derweilen noch um seine Zukunft, und die Landesregierung dieser Provinz hatte einen Brief an US-Präsident Wilson abgeschickt, in dem sie auf dem Selbstbestimmungsrecht der Völker bestand und nochmals nachdrücklich für einen Verbleib bei Österreich eintrat. Für Österreich wäredies, so wusste auch Bronstein, von nicht geringer Wichtigkeit, denn das in Rede stehende Gebiet wies wichtige Industrieanlagen und bedeutende Bodenschätze auf. Und genau deshalb würden die Tschechen es nicht so mir nichts dir nichts hergeben. Ein weiterer Konflikt, der nur deshalb entstand, weil die größere Heimat zerstört worden war.
    Apropos Konflikt, überlegte Bronstein weiter. Wer kämpfte da überhaupt noch? Die Kaiserreiche gab es nicht mehr, also musste doch wenigstens an dieser Front endlich Ruhe eingekehrt sein. In der Tat, da stand es schwarz auf weiß. Ganz klein in der Mitte der Zeitung versteckt, ein lumpiger Dreizeiler: „Infolge der Unterzeichnung des Waffenstillstandes mit Deutschland wurden die kriegerischen Operationen heute um 11 Uhr an der ganzen Front eingestellt.“ Eine Nachricht, die den 11. November betraf.
    Das war es also! Millionen Menschen hatten ihr Leben verloren, waren in der Blüte ihrer Jahre dahingerafft worden, um am Ende dieses völlig sinnlosen Mordens einen Dreizeiler zu bekommen! Und die Oberkommandierenden dieses einzigartigen Massakers hatten noch in der letzten Stunde des Krieges ihren grenzenlos zynischen Humor unter Beweis gestellt. Ein Friedensschluss am 11. 11. um 11 Uhr. Nur 11 Minuten fehlten zum Faschingsbeginn. Jetzt, so befand Bronstein, brauchte er einen Schnaps!
    Er orderte Slibowitz und spülte damit die Reste des Krenfleischs hinunter. Er blätterte den Rest der Zeitung im Eiltempo durch, was ihm umso leichter fiel, als nun die Wirtschaftsnachrichten begannen. Die waren objektiv noch deprimierender als der Politikteil. Ganze zweieinhalb Seiten des Blattes bestanden nur aus Mitteilungen über diverse Seuchen, die sich mittlerweile im Land breitgemacht hatten. Rotlauf, Räude, Schweinepest, Maul- und Klauenseuche, Geflügelcholera, Schafpocken, Milzbrand. Es schien, als hätte keine einzige EpidemieÖsterreich verschont. Das wenige Vieh, das noch
Vom Netzwerk:

Weitere Kostenlose Bücher