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Chronik der Vampire 02 - Fürst der Finsternis

Chronik der Vampire 02 - Fürst der Finsternis

Titel: Chronik der Vampire 02 - Fürst der Finsternis
Autoren: Anne Rice
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neonerleuchteten Kaufhäusern konnte man Kassetten mit mittelalterlichen Madrigalen erstehen und sie in seinem Autorecorder abspielen, während man mit hundertfünfzig Sachen über den Freeway rauschte. In den Buchhandlungen standen Gedichte aus der Renaissance neben Romanen von Dickens oder Ernest Hemingway. Auf ein und demselben Tisch lagen Schriften zur Sexualkunde neben dem Ägyptischen Totenbuch.
    Zuweilen schien mir all der Reichtum, all diese makellose Sauberkeit um mich herum lediglich eine Halluzination zu sein. Ich war nahe daran durchzudrehen.
    Wie von Sinnen starrte ich auf die Schaufensterauslagen, auf Computer und Telefone, deren Form und Farbgebung den exotischsten Muscheln in nichts nachstanden. Durch die Gassen des French Quarter glitten Limousinen wie riesige, unangreifbare Meeresungeheuer. Leuchtende Bürotürme stachen über den gedrungenen Ziegelbauten der Canal Street wie ägyptische Obelisken in die Nacht. Unzählige Fernsehprogramme strahlten in allen Hotelzimmern einen nie versiegenden Bilderstrom aus.
    Aber bei alldem handelte es sich keineswegs um eine Halluzination. Dieses Jahrhundert hatte sich die Erde in jeder Beziehung Untertan gemacht.
    Und in all dieser Freiheit, in all diesem Wohlstand schienen die Menschen von einer merkwürdigen Unschuld zu sein. Der Gott der Christen war so tot wie schon vor zweihundert Jahren, und weit und breit war keine neue Religion in Sicht. Im Gegenteil, auch die schlichtesten Gemüter waren von einer weltlichen Moral geprägt, die jeder religiösen Moral, die mir untergekommen war, in nichts nachstand. Die Normen wurden von Intellektuellen gesetzt. Und ganz gewöhnliche Leute sorgten sich im ganzen Land mit inbrünstiger Hingabe um »den Frieden« und »die Armen«. Sie redeten sich die Köpfe über Abtreibung und Todesstrafe heiß, und gegen »Umweltverschmutzung« und »nukleare Bedrohung« zogen sie mit einer Verbissenheit zu Felde wie Menschen früherer Zeitalter gegen Hexen und Gottlose.
    Und die Sexualität war nicht mehr von Furcht und Aberglauben geprägt. Sie hatte sich inzwischen der letzten religiösen Fesseln entledigt. Darum liefen die Leute halbnackt durch die Gegend. Darum umarmten und küßten sie sich mitten auf der Straße. Empfängnisverhütung war kein Problem mehr, und Geschlechtskrankheiten schienen unter Kontrolle.
    Ah, das zwanzigste Jahrhundert! Ah, das Rad der Geschichte! Meine kühnsten Träume waren übertroffen worden. Die düsteren Propheten vergangener Epochen waren Lügen gestraft.
    Ich dachte viel nach über diesen Optimismus, diese sündenfreie, weltliche Moral, diese hellerleuchtete Welt, wo der Wert des menschlichen Lebens so hoch im Kurs stand wie noch nie zuvor.
    Im gelben Zwielicht eines weitläufigen Hotelzimmers sah ich mir im Fernsehen einen brillanten Kriegsfilm an: Apocalypse Now . Ein wahrer Taumel an Farben und Tönen. Erzählt wurde die uralte Geschichte vom Kampf der westlichen Welt gegen das Böse. »Sie müssen auf der Seite des Schreckens und des moralischen Terrors stehen«, sagt der verrückte Kommandant in den wilden Gärten Kambodschas, worauf der Mann aus dem Westen das antwortet, was er schon immer geantwortet hat: »Nein.«
    Nein. Schrecken und moralischer Terror waren keine echten Werte. Das Böse hatte auf der Welt nichts zu suchen.
    Und das hieß ja wohl, daß ich hier nichts zu suchen hatte. Allenfalls in Kunstformen, die das Böse zum Gegenstand hatten -in Drakulaheftchen, Schauerromanen, alten Gespenstergeschichten -, oder in den ohrenbetäubenden Liedern der Rockstars, in denen das Böse besungen wurde, mit dem jeder Sterbliche in seiner Brust zu ringen hat.
    Das reichte wohl, um einem Monster aus der Alten Welt den Rest zu geben, auf daß es sich wieder in die Erde verkroch, sich einfach hinlegte und zu heulen begann. Genausogut konnte es aber auch Rocksänger werden, wenn man es recht bedachte…
    Aber wo waren eigentlich all die anderen Monster aus meinen alten Tagen? Das hätte ich nur zu gerne gewußt. Wie überlebten Vampire in einer Welt, in der jeder Todesfall in riesigen Computern gespeichert wurde, in der Leichen in tiefgekühlten Grüften verschwanden? Vermutlich hielten sie sich irgendwo in ihren Schattenlöchern versteckt wie eklige Insekten, ganz gleich, wie hochspurig sie auch daherreden oder wie viele Hexensabbate sie auch immer feiern mochten.
    Aber wenn ich erst einmal meine Stimme in der kleinen Band namens Satan ‘s Night Out erheben würde, dann würde ich sie sicher
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