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Christiane F. – Mein zweites Leben (German Edition)

Christiane F. – Mein zweites Leben (German Edition)

Titel: Christiane F. – Mein zweites Leben (German Edition)
Autoren: Christiane V. Felscherinow , Sonja Vukovic
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Daunenmantel hätte auch eine feine Russin aus dem Grunewald tragen können. Und dann begleitete sie auch noch dieser fesche Chow-Chow. „Boah, hier drin ist eine Bullenhitze“, sagte sie noch vor einem „Hallo“ und band dann Leon an der Heizung vor der Glasfront an.
    Es hatte geschneit, aber Christiane lief der Schweiß über die Stirn. Eine Folge der Substitutionstherapie und der Hepatitis, wie ich heute weiß. Als sie sich hinsetzte, zog sie die Ärmel ihres lilafarbenen Rollkragenpullovers hoch, bestellte eine Apfelschorle und sah uns mit ihren so bekannten großen grünen Augen an. Sie hatte sie mit schwarzem Kajal umrandet, ihre Lippen und Fingernägel waren rot angemalt. Nur die Narben auf ihrem Handrücken zeugten jetzt, als sie die schwarzen Wollhandschuhe ausgezogen hatte, davon, dass diese damals 49-jährige, noch sehr attraktive und schlanke Frau Deutschlands bekanntester Junkie ist.
    Wir brauchten uns gar nicht weiter vorzustellen, nichts zu fragen. Christiane erzählte einfach gleich drauflos. Von allem, was sie bewegte. Fast gleichzeitig: von den Überschwemmungen, mit denen viele Deutsche zu dieser Zeit kämpften – „Sie kennt die tagesaktuellen Pegelstände an Main, Oder und Ems“, dachte ich. Aber ihre Gedanken schweiften immer ab, es wirkte, als sei sie ihr eigener Stichwortgeber: Über starke Regenfälle kam sie auf das „Dschungelcamp“, in dem Sarah Knappik sich gerade als die Heulsuse der Nation entpuppte. „Mir haben auch schon Leute vorgeschlagen, dass ich in den australischen Dschungel ziehen soll“, sagte sie. „Aber nur über meine Leiche! Rund um die Uhr beobachtet zu sein, beim Kacken und Kotzen gefilmt zu werden – legen diese Leute denn keinen Wert auf Intimsphäre?“
    Ein zunächst überraschendes Urteil von einer, über die die ganze Welt weiß, dass sie sich als Kind prostituiert hat, um ihre Drogensucht zu finanzieren, und die daran bis heute nichts Schlimmes finden kann. Aber dann wurde klar, woher die Ablehnung stammt: „Vielleicht wurden diese Menschen, die dort in diesem Camp sind, noch nie in ihrem echten Privatleben von Kameras überallhin verfolgt und in furchtbar schwachen und erniedrigenden Momenten gefilmt, fotografiert – festgehalten für die Ewigkeit.“ Schließlich bricht Christiane Felscherinow in Tränen aus.
    „Ich verkrafte das bis heute nicht, dass sie mir meinen Jungen weggenommen haben“, sagt sie. Wasser steigt in ihren großen, grünen Augen hoch. Kurzes Innehalten. Dann lenkt sie sich selbst ab: „Als mein Junge sechs Wochen war, ist er beinahe einmal gestorben“, sagt sie und erzählt vom Keuchhusten ihres Babys, kommt ohne weiteren Kontext gleich auf einen kranken Freund zu sprechen, ist schnell bei der Drogenszene am Kottbusser Tor und dann wieder bei der Boulevardpresse, „die Junkies dafür bezahlt, dass sie die Journalisten anrufen, wenn sie mich sehen“.
    Am Ende dieses Abends war keine meiner Fragen beantwortet – im Gegenteil: Es waren Dutzende neue hinzugekommen. So sollte es dann über viele, viele Treffen weitergehen, genau genommen bis zum heutigen Tag.
    „Ich könnte eine ganze Zeitung mit ihren Geschichten füllen“, dachte ich irgendwann.
    Inzwischen sind drei Jahre vergangen – und weil das Projekt viel Zeit und Flexibilität erforderte, entschieden Michael Behrendt und ich irgendwann, dass ich allein weitermache. Im Dezember 2011 endete zudem mein Vertrag bei der „Welt“, was die Entscheidung nach sich zog, sich von da an fast ausschließlich auf die Arbeit mit Christiane zu konzentrieren.
    Und erst kürzlich gab es wieder eine sehr schöne Situation, die mich in meinem Entschluss bestätigte: Spätabends hatte Christiane in einem Schnellrestaurant drei 17-jährige Mädchen aus Brandenburg kennengelernt – eigentlich viel zu jung, als dass sie Christianes Geschichte unbedingt kennen müssten, zumal das Buch vor dem Mauerfall nicht in Ostdeutschland erschienen und Christiane in den neuen Bundesländern nicht ganz so „gefeiert“ worden war wie im Rest der Republik. Aber als sich im Lauf des Gesprächs herausstellte, mit wem die drei gerade bei einem Softeis plauderten, brach eines der Mädchen in Tränen aus.
    Sonja Vukovic, Juli 2013

Quellen- und Literaturverzeichnis
    Inseln der Hoffnung
    Hermann, Kai: „Suche nach kleinem Glück“, Stern, 1993
    Verdammt
    Zipprich, Alexander; Dolliger, Matthias: „Hepatitis C – Die vernachlässigten Genotypen“, Hepatitis & More, 2010
    Mythos Christiane
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