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Chocolat

Chocolat

Titel: Chocolat
Autoren: Joanne Harris
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würde Sie ermüden, Vater. Wie können Sie sie nur alle ertragen, mit ihren lauten Stimmen und ihrem Gouvernantenton . Ich glaube, es ist jetzt Zeit für unser Nickerchen . Ihre übertrieben neckische Art ist beleidigend, unerträglich. Und doch meint sie es gut, ich kann es an Ihren Augen ablesen , Vater. Vergib ihnen, denn sie wissen nicht, was sie tun . Ich bin ein Egoist. Ich komme hierher, um Erleichterung zu finden, nicht, um sie Ihnen zu verschaffen. Und doch habe ich immer den Eindruck, daß meine Besuche Ihnen Freude bereiten, daß Sie froh sind, auf diese Weise den Kontakt zur Wirklichkeit nicht zu verlieren, die für Sie verschwommen und konturlos geworden ist. Eine Stunde pro Abend fernsehen, fünfmal täglich umbetten, künstliche Ernährung … erdulden müssen, daß man über Sie redet, als seien Sie ein Gegenstand – Ob er uns hören kann? Glaubst du, er versteht, was wir sagen?  –, niemand, der Sie nach Ihrer Meinung fragt … Von allem ausgeschlossen zu sein und doch fühlen und denken zu können … Das ist die wahre Hölle, ohne das mittelalterlich bunte Beiwerk, mit dem man sie gewöhnlich ausschmückt. Es ist der Verlust von menschlichem Kontakt.Und doch wende ich mich an Sie, um von Ihnen zu lernen, wie man mit den Menschen umgeht. Lehren Sie mich zu hoffen.
    Freitag, 14. Februar
    Valentinstag
    Der Mann mit dem Hund heißt Guillaume. Er hat mir gestern geholfen, die Kisten vom Lieferwagen zu laden, und heute morgen war er mein erster Kunde. Er hatte seinen Hund Charly dabei, und er grüßte mich mit einer fast ritterlichen Höflichkeit.
    »Es ist wunderschön geworden!« sagte er, als er sich umsah. »Sie müssen die ganze Nacht gearbeitet haben.«
    Ich lachte.
    »Welch eine Verwandlung«, sagte Guillaume. »Wissen Sie, ich kann nicht sagen, warum, aber ich hatte angenommen, es würde wieder eine Bäckerei werden.«
    »Sollte ich etwa dem armen Monsieur Poitou das Geschäft verderben? Da hätte er sich aber bei mir bedankt, wo er doch so sehr mit seinem Hexenschuß zu tun hat und seine Frau so krank ist und so schlecht schläft.«
    Guillaume bückte sich, um Charlys Halsband zurechtzurücken, aber ich sah das Funkeln in seinen Augen.
    »Sie haben ihn also bereits kennengelernt«, sagte er.
    »Ja. Ich habe ihm mein Rezept für einen Schlaftee gegeben.«
    »Wenn es wirkt, haben Sie einen Freund fürs Leben gewonnen.«
    »Es wirkt«, versicherte ich ihm. Dann holte ich eine kleine rosafarbene Schachtel mit einer silbernen Schleife unter der Theke hervor. »Für Sie. Für meinen ersten Kunden.«
    Guillaume schaute mich verblüfft an.
    »Wirklich, Madame, ich …«
    »Nennen Sie mich Vianne.« Ich drückte ihm die Schachtel in die Hand. »Ich bestehe darauf. Sie werden Ihnen schmecken. Es ist Ihre Lieblingssorte.«
    Darüber mußte er lächeln.
    »Woher wollen Sie das wissen?« erkundigte er sich, während er die Schachtel in seine Manteltasche steckte.
    »Oh, ich weiß es einfach«, erwiderte ich lächelnd. »Ich sehe es den Leuten an. Vertrauen Sie mir.«
    Das Schild wurde erst mittags fertig. Georges Clairmont kam höchstpersönlich, um es aufzuhängen, während er sich wortreich wegen der Verspätung entschuldigte. Die roten Fensterläden sehen auf den frischgeweißten Wänden wunderschön aus, und Narcisse hat mir unter halbherzigem Protest wegen der Frostgefahr selbstgezogene Geranien für meine Blumenkästen mitgebracht. Ich habe beiden zum Valentinstag eine Schachtel Pralinen geschenkt, und sie zogen mit freudig verwirrten Gesichtern ab. Danach kamen bis auf einige Schulkinder kaum noch Kunden. So ist es immer, wenn in einem kleinen Dorf ein neuer Laden eröffnet; für solche Situationen gibt es einen strengen Verhaltenskodex, und die Leute sind reserviert, geben sich uninteressiert, obwohl sie innerlich vor Neugier platzen. Eine alte Dame in der traditionellen schwarzen Witwenkleidung traute sich herein. Ein Mann mit dunklen, stark ausgeprägten Zügen, der drei gleiche Schachteln Pralinen kaufte, ohne sich nach dem Inhalt zu erkundigen. Dann kam vier Stunden lang niemand. Ich hatte es nicht anders erwartet; die Menschen brauchen Zeit, um sich an Veränderungen zu gewöhnen, und obwohl mehrere Leute stehenblieben, um sich die Auslagen in meinem Schaufenster anzusehen, schien niemand geneigt hereinzukommen. Hinter der gezwungenen Gleichgültigkeit jedoch spürte ich eine Art Schmoren, ein argwöhnisches Flüstern, ein Rascheln von Vorhängen, das Bemühen, sich ein Herz zu fassen.
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