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Charlotte Und Die Geister Von Darkling

Charlotte Und Die Geister Von Darkling

Titel: Charlotte Und Die Geister Von Darkling
Autoren: Michael Boccacino
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Schleichwegen durch das Haus, unbemerkt von den anderen Gästen, die sich in Darkling aufhielten, deren Geräusche, Stimmen und Schritte wir hörten: Geister von jenseits der Grenze des Sichtbaren.
    Als Duncan den lichtlosen Raum betrat, hielt ich inne und berührte ihn am Arm. »Wir müssen die Kinder finden«, flüsterte ich. Er bedachte mich mit einem seltsamen Blick, und für einen Moment schwand das Lächeln aus seinem Gesicht, während er seinen Finger in eine der Augenhöhlen der Marmorgesichter steckte. Die Tür zu der runden Kammer mit den konzentrischen Kreisen aus Schleiern öffnete sich. Ein Junge saß auf dem Metallstuhl und seine Füße baumelten knapp über dem Boden.
    »Da seid ihr ja«, sagte er. »Ich fürchtete schon, ihr würdet nicht   …« Seine Erleichterung schwand, als wir die Kapuzen zurückschlugen, und seine Worte wurden tonlos: »… nicht kommen.«
    »Was, in aller Welt, machst du hier?«, fragte ich ihn. James sprang vom Stuhl herunter und näherte sich uns mit Vorsichtund ganz und gar unkindlichem Misstrauen. Er hatte einen schwarzen Anzug mit einer grauen Weste und einem roten Kummerbund um die Mitte an. Doch selbst ohne die maßgeschneiderte Kleidung war sein Auftreten anders als bei unserem letzten Zusammensein. Er sah trotz der Jahre, die seit unserer Trennung zweifellos vergangen sein mussten, nicht älter aus, doch eine merkliche Veränderung hatte stattgefunden.
    »Du bist zurückgekommen«, sagte er zu mir.
    »Ich wollte euch nicht verlassen.«
    »Aber du hast.« Er bedachte seinen Vater mit einer mechanischen, emotionslosen Umarmung. Henry schien es nicht aufzufallen.
    »Mein Kleiner.« Er strich seinem Sohn ungewohnt gefühlvoll durch die blonden Locken, aber James wich mit verwirrtem Gesicht zurück.
    »Ich bin kein Kind.« Er kehrte zu dem Metallstuhl in der Mitte des Raumes zurück und zog ein rauchfarbiges Fläschchen aus seiner Tasche, das mit dem Wort »dahingesiecht« beschriftet war.
    »James, leg das sofort weg!«
    »Wisst ihr denn überhaupt, was das ist?« Obwohl er nur fünf Jahre alt zu sein schien, sprach er mit der ganzen abgeklärten Überzeugung eines Jugendlichen.
    »Jemandes Tod.«
    »Aber nicht irgendjemandes Tod.« Er hielt das Fläschchen gegen das düstere Licht und fummelte fahrig an dem Stöpsel. »Ich erinnere mich genau an die Nacht, als sie gestorben ist.« Er blickte seinen Vater an. »Du glaubst das nicht, aber du irrst dich. Du hast mich mit ihr allein gelassen, um mit dem Arzt zu reden, und sie gab einen Laut von sich. Geräusche kamen aus ihr heraus. Sie keuchte, und ihre Augen waren nass, als würde sie von innen her ertrinken. Ich glaube, sie hat geweint.
    Ich wollte sie umarmen, aber sie zuckte vor mir zurück, als ob ich ihr wehgetan hätte. Da blieb ich nur still bei ihr stehen. Ich hörte den Arzt sagen, dass sie inzwischen blind geworden wäre, aber ich hatte das Gefühl, dass sie mich sehen konnte, denn sie ergriff meine Hand. Sie zog mich ganz nah zu sich und versuchte mir etwas zuzuflüstern, doch sie konnte nicht richtig sprechen. Ich konnte die Worte nicht verstehen. Zuerst dachte ich, sie sagt: ›Ich möchte nicht sterben‹, aber sie sagte es immer wieder, und mir wurde klar, dass ich sie falsch verstanden hatte. Was sie sagte, war: ›Ich möchte sterben.‹
    Sie spricht nie darüber. Ich wollte sie immer schon fragen, ob sie sich an meine Anwesenheit erinnert und ob ich es ihr ein wenig leichter machen konnte. Ich wollte, dass sie weiß, dass ich geweint habe, als sie tot war, aber ich konnte es ihr einfach nicht sagen.«
    »Und das ist ihr Tod?« Ich deutete auf das Fläschchen in seiner Hand.
    »Ich glaube schon. Ich fand es versteckt in ihrem Zimmer. Ich wartete auf eine Gelegenheit, es zu öffnen, und heute schien der passende Zeitpunkt zu sein. Duncan sollte mir helfen.« Er hielt seinem Vater das Fläschchen entgegen. »Möchtest du es lieber versuchen?«
    Henry wurde plötzlich sehr blass und Schweiß tropfte von seiner Stirn. Aber er griff nicht nach dem Fläschchen. »Nein, danke, James. Ich glaube, dass wir beide den Tod deiner Mutter unmittelbar genug miterlebt haben.« Der Junge nickte und gab Duncan den Glasbehälter, der ihn in seiner Jacke verschwinden ließ.
    »Bringt ihr uns nach Hause?« Die grünen Augen des Jungen suchten meine, und ich vermochte kaum noch, meine Tränen der Schuld zurückzuhalten.
    »Ja, das tun wir jetzt. Es tut mir so leid, James. Es ist meineSchuld, dass ihr hier allein zurückbleiben
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