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Caruso singt nicht mehr

Titel: Caruso singt nicht mehr
Autoren: Anne Chaplet
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Aber nach zwei Jahren angeblich das Nachdenken fördernder Idylle auf dem Land hatte er sich selbst die Frist verlängert. Und wieder verlängert. Sich mit Berateraufträgen in der Stadt Bedenkzeit finanziert. Und auf die Eingebung gewartet: Was tun mit einem Leben wie dem seinen – viel erfahren und wenig erlebt? Sein »Enthüllungsbuch« über die Werbebranche war fast fertig – das gehörte ja wohl zu einem ordentlichen Abschied dazu. Aber üppig fließende Tantiemen versprach er sich davon nicht.
    »I’m a loser«, sang er leise vor sich hin und stieg aus dem Bett, bevor er sich allzusehr als gescheiterte Existenz bemitleiden konnte. Komisch, dachte er, als er sich angezogen und in der Küche zu schaffen gemacht hatte, wie gut ein ganz banaler Alltag wirkt gegen Wehwehchen aller Art. Nichts ist beruhigender als, zum Beispiel, Abwaschen. Das bißchen von gestern abend. Dann den Rest von der Suppe mit den bunten Bohnen einfrieren, die er sich gestern gemacht hatte. Die leeren Katzendosen ausspülen (aus Solidarität mit den Müllsortierern) und zur Recyclingmülltonne bringen, die Gemüseabfälle auf den Kompost werfen. Die ausgelesenen Zeitungen in den überfüllten Papiereimer stopfen, die ausgeleerten Flaschen zum Wegbringen bereitstellen. Einmal durch den Flur fegen und die Küche feucht aufwischen.
    Nach diesem Programm war Bremer hellwach und nicht bester, aber wenigstens besserer Laune. Draußen war es für die Jahreszeit entschieden zu kalt, glitzernder Tau lag auf den windschiefen Rosenkohlpflanzen und den gelben Zucchiniblüten, die sich schon halb entfaltet hatten. Aus dem Schornstein im Nachbarhaus gegenüber quoll eine schwarze Rauchwolke: Marianne heizte den Küchenofen an. Immerhin schien es ein sonniger Tag zu werden – am Morgenhimmel hinter dem Nachbarshaus sah er einen rosigen Widerschein. In diesem Licht hatten die Herbstfarben seines Gartens einen besonderen Zauber: die zarte Nachblüte seiner rosaroten Strauchrosen ergänzte das dunkle Karmesinrot der Clematis, die sich über den Zaun hinter der Sitzecke gelegt hatte, und das stumpfe Rotbraun der riesigen Büschel der Fetthenne, die sich vor den Rosen ausfächerten. »Herbstfreude« hieß diese Sorte, die er mindestens so schön fand wie die schon etwas verblichenen Samthortensien im Beet rechts von der Haustür. Hortensien, hatte ein gärtnernder Schriftsteller mal behauptet, verblühten so, wie manche Frauen älter würden: Ihre riesigen bläulichroten Tellerblüten nähmen unmerklich sanftere Farben an und verlören die Prallheit der Jugend, blieben aber bezaubernd, bis der Frost sie von den Stengeln knickte. »Na ja«, dachte Paul. »Hier spricht der Dichter.«
    Ziemlich früh, sogar für seine Verhältnisse, warf er sich heute in die Fahrradklamotten und aufs Rad. Eine mäßig harte Tour vertrieb, wie ihm seine Erfahrung versicherte, ziemlich unfehlbar auch die allerschwärzesten Spinnweben nächtlicher Albträume.
    Danach: an den Schreibtisch. Wie immer.
     
    Am späten Nachmittag, als Bremer das erste Mal mit echtem Interesse an so etwas wie ein Abendessen dachte, hatte sich ein neuer Ton in das Gemurmel und Geplätscher geschlichen, das von draußen an sein Ohr drang. Irgendwer stand immer auf der Dorfstraße und schwätzte: Marianne mit Gottfried, Alfred mit jedem, der sich nicht wehrte, Bauer Knöß mit Erwin, die alte Martha mit Willi, Mariannes Mann. Bremer hatte sich längst daran gewöhnt – er hatte mittlerweile sogar das Gefühl, daß ihn dieses Hintergrundgeräusch geradezu beflügelte bei der Arbeit. Manche brauchten die Szenekneipe oder das Café als akustische Kulisse für ihre geistigen Prozesse. Ihm genügte, vielen Dank, die Dorfstraße.
    Doch jetzt war das gemütliche Geplauder entgeisterten Ausrufen gewichen. Bremer speicherte ab, klappte sein Notebook zu und öffnete das Fenster seines Arbeitszimmers im ersten Stock, das auf die Dorfstraße hinausging.
    »Mord«, sagte Gottfried, den Paul, aus dem Fenster gelehnt, fragend ansah. »Mord«, wiederholte Marianne, fast andächtig, wie Paul befremdet bemerkte.
    »Wer?« fragte Bremer. »Wo?«
    »Bei Ebersgrund.« Der Nachbarort war vier Kilometer entfernt. »Im Weiherhof.«
    Paul fühlte, wie er blass wurde. »Anne!«
    Marianne guckte ihn neugierig an und schüttelte den Kopf. »Die nicht«, sagte sie mit boshaftem Bedauern. » Die nicht.«
    Anne? dachte Paul hilflos.
4
    Die Jüngste war sechs, der Älteste zwölf Jahre alt. »Die Kiste hoch, Maximilian!«, rief Rena
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