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Caruso singt nicht mehr

Titel: Caruso singt nicht mehr
Autoren: Anne Chaplet
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wurde. Der Friede täuschte. Nichts war in Ordnung. Das jährliche Hochwasser war man gewöhnt, das steckte man weg wie nix; das fiel alles unter Naturgewalten; Schicksal; Gottes unergründbarer Ratschluß. Aber die Pferdemörder und Brandstifter, die waren nicht gottgesandt: Sie waren die Urschurken des Landlebens. Sie legten ihre Hand nicht nur an die Fundamente bäuerlicher Existenz, sondern erschütterten auch den Seelenfrieden der ländlichen Gemeinde: durch den ständigen, den allgegenwärtigen Verdacht. Paul Bremer spürte fast am eigenen Körper, wie sich Angst in die Selbstverständlichkeit einmischte, mit der jeder seiner Tätigkeit nachging.
    Auch Marianne mußte etwas gespürt haben. Sie lehnte sich auf ihren Besen und sah ihn prüfend an. »Heute schon radeln gewesen?« Paul lächelte dankbar zurück. »Du meinst, das empfiehlt sich, oder?«
    Marianne nickte. »Dringend, würde ich sagen.«
    »Alte Klatschbase«, dachte er liebevoll, während er ins Haus ging, sich umziehen. Ihr hatte er unvorsichtigerweise im letzten Frühjahr anvertraut, was ihn täglich aufs Rennrad trieb. Seither wußte es jeder. »Er muß einfach fahrradfahren«, hatte er sie mit verschwörerischer Stimme zu Gottfried sagen hören. »Es ist, hat er gesagt, wie ein … wie ein …«
    »Zwang«, hatte Paul für sich ergänzt, bei dessen Anblick sie schuldbewußt zusammengezuckt war. Und das war die reine Wahrheit: Er fuhr geradezu zwanghaft Fahrrad, seit er vor fünf Jahren hierhergezogen war, nach Klein-Roda, in das, was auch er ein gottverlassenes Kaff genannt hatte. Wegen der Kondition, gegen das Älterwerden, weil der Arzt es empfohlen hat? Das würde jeder hier verstehen. Aber aus »Selbstvergewisserung«? Marianne hatte ihn damals zweifelnd angeschaut. »Ich muß gucken, ob noch alles da ist«, war sein zweiter Versuch. Das leuchtete ihr seltsamerweise schon eher ein. Vielleicht, weil auch sie ihn, wie alle hier, für einen mehr oder weniger netten Spinner hielt.
    In Wirklichkeit war mittlerweile er es, den jeder im Umkreis von zwanzig Kilometern vermißt hätte, wenn er einmal länger ausgeblieben wäre. Der drahtige Mann mit der grauen Bürstenfrisur, dem schnellen Rad und den muskulösen Beinen war eine den Hausfrauen, Treckerfahrern, Postboten und Warenauslieferern vertraute Erscheinung. Er grüßte alle. Ihn grüßten alle. »Der tägliche Beweis, daß es mich gibt«, hatte Bremer gesagt. Daraufhin hatte Marianne mitleidig geguckt.
    Paul stieg in die Fahrradklamotten und holte sein Rennrad aus dem Schuppen. Radfahren war die beste Therapie – gegen Melancholie, Lebensüberdruß, Existenzangst und Übergewicht. Morgens, im ersten, zögernden Sonnenlicht, auf seiner Lieblingsstrecke, die ihn einen steilen Anstieg über einen Bergrücken Richtung Streitbach führte, wehte ihn regelmäßig eine leise Ahnung von dem an, was andere wohl Heimatgefühl genannt hätten. Die rötlich angestrahlten Wolkenschleier, die sich frühmorgens über die Talsenken legten, von denen sie sich schon gegen neun Uhr wieder erhoben, um sich aufzulösen im blauesten Himmel von ganz Hessen, kamen ihm überirdisch schön vor, und die Wälder, die über Paul den Tau der Nacht von ihren Blättern schüttelten, strahlten ihn in den leuchtendsten Farben an, die Gott erschaffen hatte.
    Kürzlich war er im Morgenlicht an der Kramerschen Pferdekoppel entlanggefahren, als plötzlich die ganze Herde mit fliegenden Mähnen am Gatter entlanggaloppierte, ihn begleitete auf seinem eigenen Ritt, bis die falben, roten, grauweißen, schwarzglänzenden Körper wie eine Rauchwolke abdrehten und am Horizont verschwanden. Für solche Momente kloppte er Tag für Tag seine dreißig, vierzig Kilometer herunter, für den Anblick des Graureihers über der Flußaue und des Bussardpärchens auf der Koppel, die er dort schon seit Tagen gravitätisch herumschreiten sah, immer zu zweit. Für den Anblick der windgebeugten Apfelbäume an der Straße nach Waldburg, deren rote Früchte in diesem Jahr besonders stark zu leuchten schienen. Für den Duft: Gras, Kuh, Asphalt, Heu, Gülle, Diesel, Pferd, sonnenerwärmte Luft.
    Als er heute, hinter dem Friedhof von Streitbach, die Straße nach Rottbergen hochgefahren war, eine kurze, harte Steigung hinauf, einer berauschenden Aussicht auf gleich sieben Windmühlen am Horizont entgegen, als sein Atem schneller ging, als sich ein fast beseligtes Lächeln auf seinem Gesicht zeigte – da spätestens machte sie sich wieder bemerkbar, diese
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