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Bußestunde

Bußestunde

Titel: Bußestunde
Autoren: Arne Dahl
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Alleinsein, das man fühlt, wenn der Partner vorübergehend verschwindet, um zur Toilette zu gehen. Es ist eine milde Form des Verlassenseins, von der man weiß, dass sie vorübergehen wird. Die temporäre Angst in guter Zweisamkeit, gleichsam auf Probe. Nicht das Gefühl von Einsamkeit in der Zweisamkeit einer schlechten Beziehung, sondern das Zeichen dafür, dass die Zweisamkeit funktioniert. Es ist seine erste Zweisamkeit, und er ist verblüfft darüber, wie gut es ihm dabei geht.
    Jon Anderson dreht an seinem Verlobungsring und versinkt im zufälligen, vorübergehenden Verlassensein. Er genießt es wie eine kleine Selbstkasteiung, einen vorübergehenden Besuch aus einem vorigen Leben, das man endlich in einem nachsichtigen, sogar versöhnlichen Licht betrachten kann. Er blickt sich um und versetzt sich zurück in die Zeit, die all diese kleinen Gassen schuf, die die Österlånggatan mit der Skeppsbro verbinden. Es ist das 15. Jahrhundert und unerhört lebhaft. Der Gestank ist nahezu unerträglich. Nur die Windstöße vom Meer, die dann und wann durch die engen Gassen ziehen, lassen es einen aushalten, und er sieht die Fischverkäufer, die Pelzhändler, die Pökelfleischimporteure, die Huren, die Seebären unten auf der Skeppsbro. Und mitten in alldem, vielleicht vor einer versteckten Kneipe am Anfang der Österlånggatan, sitzt ein ungewöhnlich schlanker und großer junger Mann und schüttet einen Schoppen essigsauren Wein in sich hinein. Wer wäre er damals gewesen? Mit seiner schändlichen Begierde? Ein Mönch? Ein Franziskaner, ein hagerer Bruder in grauer Kutte aus dem nahe gelegenen Kloster, ein Zisterzienser, der in den makaber einsamen Nächten in der eisigen Klosterzelle seinen sündigen Körper geißelt? Oder ein Schiffsjunge auf einem der Handelsschiffe, das im Pendelverkehr nach Deutschland hinunterführt, zu den Deutschen, die diese Stadt errichtet haben, ins Lübeck der Hanse oder noch weiter? Vielleicht wäre er – der Meisterschütze, der vor einem Jahr dem uneingeschränkten Herrscher über ein Verbrechersyndikat eine Pistole aus der Hand schoss – Söldner gewesen. Vielleicht wäre er ganz einfach vom Magistrat der Stadt angeheuert worden, um diese lärmenden, wilden, verrückten Bürger zu überwachen, die tagtäglich ums bloße Überleben kämpfen. Vielleicht hätte er seinen täglichen Broterwerb damit bestritten, Menschen zu foltern.
    Mit einem schnellen Schwenk verschwindet die gesamte Szene, das ganze Stockholm des 15. Jahrhunderts, in Jon Andersons kreisendem Verlobungsring. Eine Hand legt sich auf die seine, und jede Einsamkeit verfliegt. Der Verlobungsring dreht sich nicht mehr. Jon Anderson blickt auf in ein Paar klarblaue Augen und versinkt in ihnen.
    Marcus ist von der Toilette zurück. Er setzt sich neben Jon, und alles ist gut. Aber die Einsamkeit war schön, ruhig, befreiend – weil sie kurz war. Sie lächeln sich an und wenden sich wieder den eigenartig gestalteten Speisekarten zu.
    Und wir machen uns wieder auf den Weg. Wir verlassen den Mälarsee und seine vielfältigen Ausläufer in das, was wir Stockholmer allzu leichtfertig das Meer nennen. Göteborger lachen uns aus, wenn wir vom Meer sprechen. Die Ostsee, dieses alberne kleine Binnengewässer, das außerdem im Großen und Ganzen biologisch tot ist, kann man doch kaum als Meer bezeichnen und schon gar nicht die Teile, die auf unergründlichen Wegen durch die Stadt landeinwärts sickern und mit Müh und Not kleine Buchten wie Brunnsviken bilden, die durch die extrem schmale Ålkista, genau auf der Grenze zwischen Stockholm und Solna, mit der Salzsee verbunden sind. Am linken Ufer von Brunnsviken liegt der Hagapark, einer der schönsten englischen Gärten der Welt, der jetzt ein Teil von Ekoparken ist, dem Nationalstadtpark. Gustav III. schaffte sich bei seiner Thronbesteigung 1771 ein Landhaus in Haga an, um der ein wenig blasierten Atmosphäre des Hoflebens entfliehen zu können. Außerdem begann er den Bau eines ganz neuen Schlosses, doch die Arbeit stagnierte, als er zwei Jahrzehnte später in der Oper erschossen wurde. Nur die Ställe und die Marketenderei für die Leibgarde des Königs wurden fertig gebaut. Diese eigenartigen Gebäude werden heute die Kupferzelte genannt und bieten einer Familie mit Kindern, die dem Sommer Lebewohl sagen will, eine außerordentliche Gelegenheit dazu. Das gilt auch für eine sehr große Familie – deren vielleicht nicht ganz uneingeschränktes Oberhaupt mittlerweile nicht mehr weiß,
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