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Bußestunde

Bußestunde

Titel: Bußestunde
Autoren: Arne Dahl
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Entwicklung. Neugier also und nichts anderes veranlasste sie dazu, in einer pechschwarzen griechischen Herbstnacht mit verdächtiger Fingerfertigkeit und einem Küchenmesser als einzigem Werkzeug das Schloss der Schublade aufzufummeln. Aber als sie sah, dass in der Schublade nichts anderes lag als ein dicker Stapel Papier, vollgekritzelt mit einer unverkennbar kantigen Handschrift, setzte sie ihrer Neugier eine Grenze und sagte sich, dass die menschliche Entwicklung auch zu weit führen kann. Ohne die Blätter anzurühren, schob sie die Schublade zurück, ließ den Schließmechanismus lautlos in seine richtige Position gleiten, betrachtete ihr Werk und landete zu ihrer Verwunderung in einer Reflexion über die atemberaubende Entwicklung der Menschheit seit der Mitte des 18. Jahrhunderts. Eine Entwicklung, die uns wahrscheinlich den Planeten kostet.
    Als Ludmila am darauffolgenden Morgen an den Frühstückstisch auf der Veranda mit der märchenhaften Aussicht trat, saß Gunnar schon mit einem Bleistift in der Hand und dem dicken Papierstapel auf dem Schoß da und sagte: »Ich habe angefangen, ein bisschen zu schreiben.«
    Und während sie sich selbst versprach, dass sie ihrem Partner gegenüber zum allerletzten Mal misstrauisch gewesen war, setzte sie ihre treuherzigste erstaunte Miene auf und sagte: »Ach, wirklich? Das ist gut.«
    »Wir müssen im nächsten Herbst wieder herkommen«, sagte Gunnar, legte den Papierstapel fort und streckte den Arm nach ihr aus.
    Gemeinsam blickten sie zur Türkei hinüber, über den schmalen Sund, der genauso glitzerte, wie der Mälarsee jetzt glitzert, wenn man vom Solstugan in Fredhäll auf ihn herabblickt. Der Unterschied ist, dass auf der anderen Seite Alvik liegt und nicht die Türkei. Aber der dunkle Schatten, den Ludmila über Gunnars Gesicht gleiten sieht, ist genau der gleiche wie damals, und auch wenn sie nie wieder über sein Schreiben gesprochen haben, versteht sie, dass es um dasselbe geht, um dasselbe Schweigen in ihrem Leben. Die Sache einst in Venedig, an die nie ernsthaft gerührt werden darf.
    Und Gunnar drückt seine Ludmila noch ein wenig enger an seinen großen Körper und sieht, dass sie sieht. Sieht, dass sie ahnt, dass er einen Menschen getötet hat. Und dass dies immer ein Teil von ihm sein wird, da mag er schreiben, so viel er will. Er hat einen schrecklichen Mörder mit Namen Wayne Jennings getötet, und wenn er hundert identische Chancen bekommen hätte, hätte er jedes Mal wieder genau das Gleiche getan.
    Aber es sitzt in ihm drin.
    Dann verzieht sich das Dunkle wieder, wie es das trotz allem doch immer tut, und beide denken genau gleichzeitig: Es ist fast ein Glück, dass es dieses Dunkle gibt. Sonst ginge es uns zu gut. Reines Glück wird auf die Dauer stickig.
    Und da verlassen wir sie, eng umschlungen, und folgen dem Ufer um Kungsholmen herum, wo der Katzenkopf des Ulvsundasees sich unter der nördlichen Brücke des Essingeleden verengt und eine unerwartete Chamäleonzunge herausstreckt, die sich auf Höhe der kleinen Ekelundsbro in den Karlbergssee zwischen Kungsholms Strand und Klara Strand verwandelt. Das Wasser des Mälarsees ist jetzt richtig in Fahrt gekommen, als es auf seinem Weg zum Meer unter der St. Eriksbro, der Barnhusbro und der Kungsbro hindurchströmt, bevor es via Klarabergsviadukt und unter der Stadshusbro in die Bucht Riddarfjärden hinaussprudelt, die sich um Riddarholmen und Gamla Stan teilt.
    In Gamla Stan sitzt auf einem schmalen Bürgersteig in der Österlånggatan nicht weit vom Schloss ein großer Mann und fühlt sich einsam. Er denkt darüber nach, wie leicht es ist, sich inmitten von Menschenmassen einsam zu fühlen. Er denkt daran, wie oft es ihm so ergangen ist. Und dies hier kann durchaus als Menschenmasse bezeichnet werden – die Tische stehen dicht beieinander auf dem Bürgersteig, und das Restaurant ist brechend voll, die Gäste sind fast ausschließlich Männer. In einem anderen Zustand – der beinahe sein ganzes Leben über vorherrschend war – hätte er das Gefühl gehabt, die Hausfassaden von Gamla Stan rückten näher und näher, schlössen sich um ihn, so wie auch alle diese fidelen Schwulen in Mandus Bar & Kök sich viel zu nah an ihn herandrängten. Aber diese Art von Einsamkeit ist es diesmal nicht. Es ist eine andere, und Jon Anderson ist inzwischen fähig, diese andere Einsamkeit zu studieren, sie zu drehen und zu wenden, sich von ihr faszinieren zu lassen, ja mit ihr zu spielen. Es ist dieses sonderbare
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