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Bußestunde

Bußestunde

Titel: Bußestunde
Autoren: Arne Dahl
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sie den Hain des Gedenkens verlässt und in abgelegenere Teile des Norra-Friedhofs gelangt, sagt sie sich selbst, dass sie trotz allem den falschen Beruf ergriffen hat. Der Tod darf kein Feind sein, wenn man ständig von ihm umgeben ist. Man muss einfach lernen, mit ihm zu leben.
    Das Grab, zu dem sie unterwegs ist, ist für sie zu einem besonderen Platz geworden, einem Platz, wo sie sie selbst sein und den verdrängten Schmerz des Lebens hochkommen lassen kann, wo die Trauer über den toten Kollegen sich mit der Trauer über ihr eigenes Leben vereinen kann. Der Trauer über die Einsamkeit und die Schuld. Der Trauer über alle falschen Entscheidungen im Leben. Kurz und gut, der Trauer über das Leben.
    Sie führt kein schlechtes Leben, mitnichten. Es ist besser als das der meisten. Ihre Karriere läuft ganz gut – auch wenn sie in der letzten Zeit nicht gerade mit Fällen überhäuft war –, und sie hat ihren Sohn Anders, der inzwischen richtig groß zu werden beginnt. Und für einen Augenblick hatte sie geglaubt, sie hätte …
    Ja, das Leben läuft nicht immer so, wie man es sich gedacht hat.
    Es kommt ihr so vor, als läge das Grab tief im Wald, völlig abseits, auf einer Lichtung, und als sie aufblickt, werden die Baumwipfel weniger, bis der klarblaue Himmel an der Grenze zwischen Sommer und Herbst wieder sichtbar ist. Da ist sie am Ziel.
    Sie ist immer allein hier. Es liegen viele Gräber rundherum, aber außer ihr ist sonst nie jemand da. Das ist schön. Sie will für sich sein in ihrer Trauer.
    Der Trauer um ihren toten Polizisten.
    Sie kommt von ihrem toten Pastor und geht zu ihrem toten Polizisten.
    Sie denkt an Krebs. Sie denkt an dieses wahnsinnige innere Gift des Körpers. Sie fragt sich, warum es existiert.
    Dann kniet sie nieder. Sie kniet immer nieder. Das Gras ist Gott sei Dank noch trocken genug, sodass sie die Spuren ihrer Trauer nicht wie Stigmata durch die sonntägliche Stadt tragen muss. Denn natürlich wird sie weitergehen. Hinterher. Nach dem Gefühlsausbruch.
    Sie blickt auf den Grabstein. Er sieht so neu aus. Er sieht so unnötig aus.
    Du hättest nicht sterben müssen.
    Sie wendet den Blick zum Himmel und denkt an Viggo Norlander. Sie denkt an seinen Krebs. Und sie sieht wieder auf den Grabstein, dann senkt sie den Blick auf das Gras, auf die Erde, die Erde, in der er vergeht.
    Auf dem Grabstein steht Bengt Åkesson.
    Bengt Åkesson steht da, darunter ein Geburtsdatum Anfang der Sechzigerjahre und ein Todesdatum Anfang September des vergangenen Jahres. So unerwartet.
    So unnötig.
    Einen Monat nachdem er aus einem einjährigen Koma erwacht war, setzte sich plötzlich ein Blutgerinnsel in seinem Gehirn fest. Das war offenbar nicht ungewöhnlich nach einer so lange im Liegen verbrachten Zeit – angeschossen von einem Wahnsinnigen, der dann sich selbst und seine Geliebte erschoss und zwei Jahre nach seinem eigenen Tod auch zu Bengt Åkessons Mörder wurde.
    Sie fragt sich, ob er danach in der Hölle in einen niedrigeren Kreis befördert wurde. Aber eigentlich war es ihr egal. Der Mörder war ihr egal. Nicht Bengt.
    Wie mühsam es gewesen war. Gegen alle Wahrscheinlichkeit war er doch aufgewacht, anfänglich hatte er sich nur durch Blinzeln verständlich machen können, hatte aber zur Sprache zurückgefunden, wenn auch wortkarg und langsam. Und die Prognose lautete, dass er bald in einem Rollstuhl sitzen und das Haus werde verlassen können. Er starb um die Ecke, nur hundert Meter entfernt, im Karolinska.
    Für eine kurze Zeit war er ihr Liebhaber gewesen. Eine viel, viel zu kurze Zeit. Und als er aufwachte, war sie gerade einem anderen Kollegen wieder nähergekommen, mit dem sie einmal vor sehr langer Zeit ein sehr kurzes Verhältnis gehabt hatte. Paul Hjelm. Sie waren gemeinsam wegen eines Geheimauftrags in Berlin gewesen. Es war alles über Erwarten gut verlaufen, und während der dritte Mann vor Ort, Jorge Chavez, die Stadt verlassen hatte, um sich mit seiner Sara Svenhagen auf Chios zu vereinigen, waren sie in Berlin geblieben. Beide. Jeder in seinem Zimmer im selben Hotel. Sie hatten gemeinsam während einiger Tage die Stadt erkundet. Aber jedes Mal, wenn sie einander richtig nahekamen, hatte sich ihr der Gedanke an Bengt Åkesson aufgedrängt, der in einem Krankenhausbett in Stockholm um sein Leben kämpfte, und sosehr sie auch wollte, sie konnte den Schritt nicht tun. Und Paul Hjelm akzeptierte das. Sie hatten eine schöne gemeinsame Zeit in Berlin verbracht, als Freunde.
    Und dann
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