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Brunetti 15 - Wie durch ein dunkles Glas

Brunetti 15 - Wie durch ein dunkles Glas

Titel: Brunetti 15 - Wie durch ein dunkles Glas
Autoren: Donna Leon
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Unterwerfung. Schon beim Eintreten drängte es Brunetti, etwas zu gestehen, irgendwas, nur um schnell wieder wegzukommen.
    Nach ungefähr zehn Minuten erschien ein uniformierter Beamter mit einem Mann, der, obwohl größer als er, mindestens zehn Pfund leichter war. Brunetti hatte schon oft beobachtet, daß Häftlinge, selbst solche, die nur über Nacht in Polizeigewahrsam saßen, in ihren Kleidern schrumpften: so auch dieser Mann. Sein Hosenboden schleifte fast über die Dielen, und sein Hemd bauschte sich so, daß es aus der zugeknöpften Jacke herausquoll. Er hatte sich offenbar an diesem Morgen nicht rasieren können, und die dichten, schwarzen Haare standen auf einer Seite ungebändigt vom Kopf ab. Seine abstehenden Ohren verliehen ihm etwas Linkisches, was durch die schlechtsitzende Kleidung noch unterstrichen wurde. Er schaute Brunetti ausdruckslos an, aber bei Vianellos Anblick lächelte er froh und erleichtert, und sobald seine Züge sich entkrampften, sah Brunetti, daß er jünger war, als es zunächst den Anschein hatte, so etwa Mitte dreißig.
    »Dann hat dich Assunta also erreicht?« Mit diesen Worten umarmte der Mann Vianello und klopfte ihm auf den Rücken.
    Den Inspektor schien diese herzliche Begrüßung zu überraschen, doch er erwiderte Ribettis Umarmung und sagte: »Ja, sie hat mich angerufen, kurz bevor ich zum Dienst mußte, und gefragt, ob ich irgendwie helfen kann.« Vianello trat einen Schritt zurück und wies auf Brunetti. »Das ist mein Vorgesetzter, Commissario Brunetti. Er war so freundlich, mich zu begleiten.«
    Ribetti streckte Brunetti die Hand hin. »Danke, daß Sie gekommen sind, Commissario.« Sein Blick wanderte von Vianello zu Brunetti und wieder zurück. »Ich wollte keine ...« Er brachte den Satz nicht zu Ende. »Also«, setzte er noch einmal an, »ich wollte dir nicht so viele Umstände machen, Lorenzo.« Und an Brunetti gewandt: »Geschweige denn Ihnen, Commissario.«
    Vianello trat an den Tisch. »Schon gut, Marco. Mit Leuten zu verhandeln ist doch unser täglich Brot.« Er zog zwei Stühle an einer Seite des Tisches heraus und rückte dann den am Kopfende für Ribetti zurecht.
    Als alle Platz genommen hatten, machte Vianello eine Geste zu Brunetti hin, als wolle er an ihn übergeben. »Erzählen Sie uns, was vorgefallen ist«, sagte der Commissario.
    »Alles?« fragte Ribetti.
    »Alles«, bestätigte Brunetti.
    »Drei Tage lang haben wir demonstriert«, begann Ribetti. Sein Blick schien zu fragen, ob die beiden von der Protestkundgebung wußten. Als alle zwei nickten, fuhr er fort: »Gestern waren wir etwa zu zehnt. Mit Transparenten. Wir haben versucht, die Arbeiter davon zu überzeugen, daß sie mit dem, was sie dort tun, uns allen schaden.«
    Brunetti machte sich kaum Illusionen über die Bereitschaft von Werktätigen, auf ihren Job zu verzichten, nur weil man ihnen vorhielt, daß zahllose Menschen, die ihnen noch dazu völlig fremd waren, durch ihre Arbeit zu Schaden kämen. Trotzdem nickte er wieder.
    Ribetti faltete die Hände auf dem Tisch und betrachtete angelegentlich seine Finger.
    »Wann sind Sie bei der Fabrik angekommen?« fragte Brunetti.
    »Nachmittags, so gegen halb vier«, antwortete Ribetti und sah den Commissario dabei an. »Die meisten von uns sind berufstätig und können sich erst nach der Mittagspause freimachen. Die Arbeiter kommen um vier ins Werk zurück, und wir möchten, daß sie uns sehen, unsere Plakate lesen, vielleicht sogar zuhören oder mit uns diskutieren.« Und mit einem ganz verlegenen Gesichtsausdruck, der Brunetti an seinen Sohn erinnerte, setzte Ribetti hinzu: »Wenn wir den Leuten begreiflich machen können, welche Gefahren von der Fabrik ausgehen, nicht nur für sie, sondern für uns alle, dann werden sie vielleicht ...«
    Auch diesmal behielt Brunetti seine Gedanken für sich. Vianello war es, der das Schweigen brach: »Bringt es denn wirklich was, mit den Leuten zu reden?«
    Da lächelte Ribetti. »Wer weiß? Wenn wir sie einzeln antreffen, hört manch einer zu. Doch sobald sie zu mehreren sind, gehen sie einfach weiter. Oder sie machen auch mal Bemerkungen.«
    »Zum Beispiel?«
    Ribetti sah erst die beiden Polizisten an, dann senkte er den Blick auf seine Hände. »Ach, daß sie nicht interessiert sind, daß sie arbeiten müssen, daß sie Familie haben. Oder sie werden sogar ausfallend.«
    »Aber nicht handgreiflich?« fragte Vianello.
    Ribetti schüttelte den Kopf. »Nein, das nicht. Wir sind ja auch alle darin geschult, jede
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