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Bruderherz

Titel: Bruderherz
Autoren: Blake Crouch
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Zurzeit, in deinem Zimmer, bist du in der Gebärmutter. Du kannst deinen Verstand noch nicht benutzen, kannst weder denken noch urteilen. Vertrau mir völlig. Ich werde dich lehren, die Welt neu zu sehen. Ich werde zunächst deinen Geist füttern. Ihn mit den genialsten Denkern der Menschheitsgeschichte ernähren.« Eine weiße Hand schob sich an der Plastikfolie vorbei und ließ ein Buch auf den Boden fallen.
    »Deine erste Mahlzeit«, sagte er, während ich »Der Fürst« in einer gebundenen Ausgabe aufhob. »Machiavelli. Der Mann ist unzweifelhaft ein Genie. Weißt du etwas über Hannibal, den Heerführer von Karthago, der Rom geplündert hat? Der mit seinen Männern und einer ganzen Elefantenarmee über die Alpen marschiert ist?«
    »Ich hab von ihm gehört.«
    »Also, er ist mit seinem Heer die ganze Mittelmeerküste entlanggezogen und quer durch Osteuropa, doch was Hannibals Heer so einzigartig machte, war, dass es zwischen seinen Soldaten keinerlei Unstimmigkeiten gab. Verschiedene Nationalitäten, Glaubensrichtungen, Sprachen und trotzdem keine Unstimmigkeiten in seinen Reihen. Weißt du, was diesen Frieden ermöglichte?«, fragte er. »Machiavelli nannte es Hannibals ›unmenschliche Grausamkeit‹, die ihn zusammen mit seinem grenzenlosen Mut in den Augen der Soldaten Furcht einflößend und verehrungswürdig erscheinen ließ. Ohne diese Grausamkeit hätten seine anderen Tugenden niemals diese Wirkung gehabt.« Er schwieg einen Moment und ich hörte lediglich das Rauschen des trockenen, schneidenden Winds gegen die Fensterrahmen und den schnellen Atem meines Gefängniswärters. »Unmenschliche Grausamkeit«, wiederholte er. »Das erregt mich.« Seine Stimme war so leidenschaftlich geworden, als spräche er zu seiner Geliebten. »Also«, fuhr er fort, »fang gleich heute Abend an zu lesen und wir unterhalten uns morgen darüber. Hast du Hunger?«
    »Ich sterbe fast vor Hunger.«
    »Gut. Ich mache uns jetzt das Abendessen; warum fängst du nicht schon mal mit deiner Lektüre an? Ich hoffe, gedämpfte Garnelen mit Engelshaarnudeln sagen dir zu.« Er riss die Luftpolsterfolie weg und schob das Blech wieder über den Schlitz. Als er weg war, sank mir vor Erleichterung der Kopf auf die Brust. Minutenlang blieb ich reglos in meinem weißen Bademantel sitzen und starrte mit leerem Blick zu Boden.
     
    Eine kleine an die Wand geschraubte Lampe erleuchtete die Buchseiten nur spärlich. Da er mir meinen Seesack noch nicht ausgehändigt hatte, fehlte mir auch meine Lesebrille, weshalb meine Augen rasch ermüdeten.
    Nach der Hälfte der Lektüre ließ ich »Der Fürst« auf den Boden gleiten und hoffte, dass ihm das reichen würde. Gerade als ich nach oben langte und das Licht ausschaltete, schien das milde Licht des Vollmonds sanft und tröstend durch die Gitterstäbe. Es hätte mir große Angst eingeflößt, die erste Nacht bei wiedererlangtem Bewusstsein in der völligen Dunkelheit des Neumonds verbringen zu müssen.
    Die Luft um mich herum war durch die Sonneneinstrahlung des Tages unerträglich geworden, und obwohl die Hitze der Wüste mit Einbruch der Dunkelheit langsam entwich, stand die heiße Luft nach wie vor in meinem Zimmer. Deshalb hatte ich bei Sonnenuntergang das Fenster geöffnet, und nun, da die trockene Kälte der Wüstennacht eingedrungen war, musste ich unter die Fliesdecke kriechen.
    Ich schloss die Augen und lauschte. Durch das geöffnete Fenster konnte ich in weiter Ferne Eulen schreien und Kojoten oder wilde Hunde den Mond anbellen hören. Seit dem Abendessen hatte ich keinen Mucks mehr von ihm gehört. Keine Schritte, kein Atmen, nichts.
    Die letzte Stunde über hatte Jazzmusik das Holzhaus erfüllt. Zunächst ganz leise wie zaghaftes Geflüster, so dass ich nur das gutturale Dröhnen des Basses wahrnehmen konnte. Die Lautstärke hatte zugenommen, inzwischen drang auch der vorherrschende Beckengrundschlag mit seinem abschließenden schleifenden Gegenschlag ins Zimmer. Als Klavier, Trompete und Saxophone die Wand durchdrangen, erkannte ich plötzlich den Song und wurde zwanzig Jahre zurück in eine andere Zeit, in ein anderes Leben katapultiert. Miles Davis, John Coltrane, Julian »Cannonball« Adderley, Paul Chambers, Bill Evans und Jimmy Cobb spielten »All Blues«, ein schwermütiges Bluesstück in 6/8 aus dem 1959er Album »Kind of Blue«.
    Ein gellender Schrei übertönte die Musik. Ich setzte mich auf und lauschte. Ein weiterer Schrei durchbrach die Nacht. Ich hielt mich an den
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