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Briefe aus dem Gefaengnis

Briefe aus dem Gefaengnis

Titel: Briefe aus dem Gefaengnis
Autoren: Michail Chodorkowski
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rechnen. »Der Kurs hat sich in diesen gut zwei Jahren versiebenfacht.« Dann korrigiert er sich: »Nein, nein, was sage ich: verachtfacht.«
     
    Mein nächstes Treffen mit MBC findet dann schon in einer ganz anderen Atmosphäre statt. Es ist Mitte September 2003, mein Moskauer Kollege Uwe Klußmann und ich sind zu einem »Spiegel«-Gespräch verabredet; wieder in seinem Büro; wieder wird es eine außergewöhnlich offene, stundenlange Diskussion. Chodorkowski bemüht sich, locker zu wirken. Doch die Anspannung lässt sich nicht ganz überspielen. Zum ersten Mal sind tiefe Ringe unter seinen Augen zu sehen, seine Bewegungen wirken fahrig. »Können Sie noch ruhig schlafen? Oder leben Sie in ständiger Angst, verhaftet zu werden?«, lautet meine erste Frage. »Nein, warum sollte ich? Ich habe mir nichts zuschulden kommen lassen«, antwortet er und erklärt seine »gewisse Nervosität« mit der
Arbeitsüberlastung und den langen Flügen. Er sei gerade mit seinem Privatjet aus den USA zurückgekommen, wo er Verhandlungen mit US-Ölkonzernen über Beteiligungen an Jukos geführt habe. Und die langen, nach vielen Schwierigkeiten erfolgreichen Fusionsverhandlungen mit der russischen Energie-Firma Sibneft und deren schillernder Führungsfigur Roman Abramowitsch hätten viel Kraft gekostet.
    Chodorkowski ist auf dem Höhepunkt seiner Karriere – Jukos liegt nach BP, ExxonMobil und Shell an vierter Stelle unter den privaten Ölproduzenten der Erde, ein Weltkonzern, der außerdem noch über die größten Ölreserven verfügt. Das US-Wirtschaftsmagazin »Forbes« führt ihn inzwischen als Nummer 26 unter den Reichsten der Erde, aber darüber hinaus auch als Nummer 7 unter den mächtigsten Wirtschaftsführern weltweit. Er hat über eine seiner Stiftungen die einflussreiche Wochenzeitung »Moskowskije nowosti« gekauft und dort einen als besonders kremlkritisch bekannten Chefredakteur installiert. Er erklärt jetzt ganz offen, Geld für die liberalen Oppositionsparteien Jabloko und die Union der Rechten Kräfte zu spenden. Und er hat sich im Februar 2003 bei einer vom Kreml einberufenen Sitzung der mächtigsten Wirtschaftsführer direkt mit dem Präsidenten angelegt, dessen Mannschaft und indirekt auch ihn selbst er der »Korruption im ganzen Land« beschuldigte. Längst ist er vom Rädelsführer der Räuberbarone zum Mahner für mehr Rechtsstaatlichkeit und Demokratie geworden. Einer, für den sein soziales Engagement, die Spenden für Schulen und Waisenhäuser, die Förderung von freier Presse und sauberer Unternehmensführung kein reiner Ausdruck von Nächstenliebe geworden ist, sondern zunehmend ein Instrumentarium für den Umbau des ganzen Landes. Eine Alternative.

    Chodorkowski ist somit nicht nur an der Spitze, sondern auch an einem bedrohlichen Wendepunkt angekommen: Die Firmenräume seines Konzerns wurden wenige Wochen zuvor durchsucht. Zum Zeitpunkt unseres Gesprächs ist sein Hauptgeschäftspartner Lebedew schon festgenommen, ein anderer Jukos-Manager wurde gar zweier Auftragsmorde beschuldigt (und MBC mehr oder weniger erkennbar unterstellt, dass er von diesen Taten gewusst haben müsste). »Die Einschläge kommen näher«, sage ich. »Müssen Sie nicht Vorkehrungen treffen? Ihr Oligarchen-Kollege Beresowski hat Ihnen aus dem Londoner Exil geraten, das Land zu verlassen.« Er denkt nicht einen Moment nach; es ist offensichtlich, dass er seine Entscheidung schon getroffen hat. »Ich habe keinen zweiten Pass«, sagt er. »Ich besitze nicht einmal Immobilien im Ausland. Meine Zukunft liegt in Russland, in Russland allein. Man kann mich von hier nur fortjagen.«
    Oder wegsperren. Schwer zu sagen, ob Chodorkowski sich wegen seiner internationalen Kontakte, wegen seiner Finanzmacht für unantastbar gehalten hat. Ob er wirklich geglaubt hat, dass Putin ihm die Brüskierung im Kreis der Kreml-Insider und Wirtschaftsbosse durchgehen lassen, seine erkennbaren politischen Ambitionen tolerieren würde. Viel spricht dafür, dass er das Risiko bewusst eingegangen ist. Diesmal gibt er bei unserem Treffen keinen Aktien-Tipp, und die Frage eines nächsten Termins wischt er fast melancholisch bei Seite. »Das wissen die Götter.«
    Sechs Wochen später wird Chodorkowski bei einem Zwischenstopp seines Privatjets im sibirischen Nowosibirsk festgenommen und zunächst in Moskau inhaftiert. Er wird dann im Mai 2005 wegen Unterschlagung und Steuerhinterziehung
gegenüber dem russischen Staat in Höhe von über einer Milliarde Dollar zu
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