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Breaking News

Breaking News

Titel: Breaking News
Autoren: Frank Schätzing
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anderen hofft er bald wieder sprechen zu können.
    »Wie sieht’s aus?«, fragt er den Chefarzt.
    »Im Moment ist sie stabil.«
    Kommt es ihm nur so vor, oder legt der Mann eine Zuversicht in seine Stimme, die seine Augen nicht ausstrahlen?
    »Und wann wird sie aus dem Koma –«
    »Es ist ja kein richtiges Koma.«
    »Ja, natürlich.« Wie dumm. Haben sie ihm schon zweimal erklärt. Der Begriff Koma ist inkorrekt, sie liegt in künstlichem Tiefschlaf.
    »Wir haben das Aufwachen eingeleitet. Die nächsten Stunden werden entscheiden.«
    »Worüber?«
    Der Arzt zögert. »Wenn sie aufwacht, ist alles in Ordnung.«
    »Kann ich zu ihr?«
    »Sicher.«
    Das Zimmer hat ein großes Fenster, man sieht einen Streifen Himmel, Baumwipfel und die Dächer der benachbarten Klinikgebäude. Ein schönes Zimmer. So schön Krankenzimmer halt sein können. Um das Bett herum stapeln sich Apparate und Monitore, es summt und piept, Schläuche winden sich aus Messgeräten zu dem großen, reglosen Körper. Eine Schwester blickt auf, lächelt und geht hinaus.
    Perlman zieht einen Stuhl heran und setzt sich.
    Stichwunde im Unterleib.
    Schädelfraktur.
    Der Handgelenksbruch fällt da kaum noch ins Gewicht.
    Immerhin keine Verbrennungen. Der Feuerwalze ist Cox um Haaresbreite entronnen.
    Er blickt in ihr schlafendes Gesicht.
    Vielleicht liegt es an den Bandagen, die den martialischen Kurzhaarschnitt verdecken, aber die Frau dort sieht jünger und weicher aus, als er sie in Erinnerung hat, obwohl er sie schon so lange kennt. Hätte man ihn vor einer Stunde gebeten, sie zu beschreiben, es wäre ihm leichtgefallen.
    Er hätte eine Agentin beschrieben.
    Jetzt sieht er jemand ganz anderen.
    Unschuldig.
    Schutzbedürftig.
    Er sieht wieder das Mädchen, dem er vor elf Jahren eine Familie versprochen hat.
    Habe ich mein Versprechen gehalten, Shana?
    Wir sind eine Familie, ja. Um den Preis, dass wir uns außerhalb der Gesellschaft stellen, der wir dienen. Weil wir eine gefährliche Macht in Händen halten. Die Macht, Menschen per Knopfdruck zu töten. Recht und Gesetz durchzusetzen, indem wir es brechen. Jeder von uns blickt auf eine Karriere des Tötens zurück, und mancher legt Wert darauf, sich seiner Toten zu erinnern. Er kann sie aufzählen, in der Reihenfolge ihres Ablebens, jedem Einzelnen seine Geschichte zuordnen. Es ist der Versuch, nicht die Kontrolle zu verlieren, da du auf einen Schlag Dutzenden das Leben nehmen kannst, ein Sichanstemmen gegen die Banalisierung des Mordens, gegen die pauschale Rechtfertigung.
    Dagegen, dass es zum Selbstläufer wird.
    Ist das nicht eigenartig?
    Früher dachte ich, es müsse schier unmenschliche Überwindung kosten, jemanden zu töten.
    Doch es ist gar nicht so schwer, damit anzufangen.
    Es ist schwer, aufzuhören.
    Und selbst dann bleibst du für den Rest deines Lebens ein Killer.
    Es gibt eine Zeit vor dem Töten. Keine danach.
    Meine Toten, Shana? Ich sehe nur Schemen. Gesichtslos. Vielleicht besser, sie herbeizitieren zu können, ich will darüber nicht urteilen. Ich wollte nur nie der Versuchung anheimfallen, eine Rechnung aufzumachen: Wie viele Tote – aufgerechnet gegen das Gute, das ich bewirke oder zu bewirken glaube – sind vertretbar? Denn die Wahrheit ist: kein einziger. So gesehen spielt die Anzahl schon fast keine Rolle. Was unsere Psyche deformiert, ist, dass wir uns von Mal zu Mal weniger fragen, wo das alles hinläuft. Was wir damit erreichen. Stünde am Ende all der Entgrenzungen Frieden, echter, dauerhafter Frieden, ich würde keine Sekunde mit meinen Toten hadern. Die Zeit wird über mich hinweggehen, ich werde meine Zähne verlieren, meine Haare, meine Sehkraft – wenigstens meine Überzeugung möchte ich behalten, dass man Menschen wie uns eines Tages nicht mehr braucht, dass es das alles wert war.
    Dass wir den Krieg gewinnen.
    Und tatsächlich gewinnen wir jede Schlacht.
    Aber den Krieg verlieren wir.
    Die Apparate sondern ihr gleichmäßiges Piepen ab.
    Perlman seufzt.
    Eine eigenartige Atmosphäre herrscht in dem Zimmer, wie der Zeit enthoben, und er denkt an vergangenes Jahr. An eine Geschichte, die ihm Awi Ajalon erzählt hat, Exdirektor des Schin Bet, als während der Zweiten Intifada ein palästinensischer Freund zu ihm kam, ein studierter Psychologe:
    »Siehst du, Awi, nun haben wir euch endlich besiegt.«
    »Besiegt? Spinnst du? Ihr habt Hunderte Tote zu beklagen. Und es werden Tausende, wenn ihr so weitermacht! Ihr zerstört euren Traum vom eigenen Staat.«
    »Nein, Awi.
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