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Brandeis: Ein Hiddensee-Krimi (German Edition)

Brandeis: Ein Hiddensee-Krimi (German Edition)

Titel: Brandeis: Ein Hiddensee-Krimi (German Edition)
Autoren: Birgit Lautenbach , Johann Ebend
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ausgezehrt war, dass Thiel erschrak. Wann hatte er sie zum letzten Mal gesehen? Vor zwei Jahren? Drei? Und bis zuletzt nicht gewusst, wie es um sie stand. Nur, dass eine Tagesreise für eine halbe Besuchsstunde zu beschwerlich geworden war. Gudruns erster und einziger Brief erreichte ihn eine Woche nach der Beerdigung.
    Thiel schob das Album beiseite und drehte sich eine Zigarette.
    Auf dem Brief hatte kein Absender gestanden, aber er wusste, dass sie in Neuendorf wohnte.
     
    Thiel hatte auf dem Kanapee in der Küche geschlafen. Unruhig und durch Träume getrieben, an die er sich beim Erwachen nur schemenhaft erinnerte und über die er nicht nachdenken wollte. Dass Wände sich auflösten und das Bett, in dem er lag, in einer baumlosen Schneewüste stehen ließen, war nichts, womit er sich beschäftigen wollte. Er zog das reale Bild vor. Einen hohen lichtblauen Himmel über unberührtem Schnee, den der Wind in der Nacht vom Boddendeich herunter in Wellen auf das Haus zugeweht hatte. Thiel öffnete die Tür und trat mit nackten Füßen ein paar Schritte vors Haus. Wandte sein Gesicht der Sonne zu und spürte zum ersten Mal die Gewissheit, dass es richtig war, was er tat. Dass es von hier zurück ins Leben gehen würde.
    Die ersten Schritte wären gemacht, sagte er sich. In
Unterhosen und barfuß in den Schnee als eine ganz spezielle Art von Neubeginn.
    Er lächelte, als er zurück ins Haus ging.
    Kurz vor zehn hatte er alles Notwendige erledigt. Sich selbst gewaschen und dabei im kalten Bad ganz erbärmlich gefroren, danach das Geschirr gespült und zurück in den Schrank gestellt, sich schließlich im Telefonieren geübt und zwanzig Zentner Brikett bestellt. Genug, um über den Winter zu kommen. Er zog seine Stiefel an, die neben dem Herd trocken und warm geworden waren, schloss die Jacke über dem Sweater bis hoch zum Kinn und setzte seine Wollmütze auf.
    Der Weg ans Meer war kürzer, als er ihn in Erinnerung hatte. Was wohl daran lag, dass er gegen die Enge seiner Zelle mit Bildern einer endlos weiten Landschaft angeträumt hatte. Mit Deichen, hinter denen nur See und Himmel lagen.
    Jetzt sah er Boote kieloben am Boddenufer. Wie eine lange Reihe gestrandeter Wale, weiß, hellblau, verwaschen grün, so weit vom Wasser weggezogen, dass auch stürmischeres Wetter sie nicht forttreiben konnte. Zu den alten Sommerhäusern waren neue gekommen, die den Dorfrand bis dicht an den Deich schoben, und dort, wo in seiner Erinnerung Fahrräder kunstvoll gegeneinandergelehnt werden mussten, damit sie nicht in den Sand fielen, sorgten nun Holzgestelle für Standfestigkeit und Ordnung.
    Auf dem Dünenkamm blieb er stehen. Tat minutenlang nichts anderes, als tief zu atmen und seinen Blick
schweifen zu lassen. Über den zerklüfteten Eiswall am Strand nach Norden, am Hochufer entlang, dann weiter hinaus zur Fahrrinne, wo sich Schiffe ausmachen ließen. Eins auf der Fahrt nach Norden, zwei mit Kurs auf Rostock.
    Er wandte sich nach Süden, der Sonne entgegen. Mit den schweren Winterstiefeln über den Strand zu gehen, erwies sich als mühsam, und weil er an der Dünenheide im Windschatten der Kiefern lief, begann Thiel in seiner Daunenjacke zu schwitzen. Trotzdem verringerte er weder sein Tempo noch das ausholende Maß seiner Schritte. Es machte ihm Freude, so durch das Gemisch aus Schnee und Sand zu stapfen.
    Seinen Plan, bis nach Neuendorf am Wasser entlangzugehen, gab er auf, als er auf einer weit an Land geschobenen Eiszunge ausglitt und ungebremst auf den Rücken fiel. Schon im Sturz schoss ihm durch den Kopf, dass ein hinterhältiges Schicksal ihm hier und jetzt an diesem menschenleeren, eisigen Strand das Genick brechen könnte. Dann hätte er ziemlich genau drei Tage und zwei Stunden seine Freiheit genossen.
    Ein bisschen wenig, fand Thiel und bog in den Weg durch die Dünenheide ein.
     
    Es war kurz nach halb eins, als er klingelte. Von drinnen hörte er Rumoren und Türenschlagen und eine ungeduldige Frauenstimme. Er trat einen Schritt von der Haustreppe zurück, bevor die Tür geöffnet wurde.
    Sie erkannte ihn auf den ersten Blick. Ihr Gesicht
verschloss sich, die Augen wurden schmal und abweisend und vergewisserten sich blitzschnell, dass niemand sonst sah, wer hier vor ihr stand.
    »Was willst du?« Sie zog ihre Wolljacke vor der Brust zusammen.
    »Ich …«
    Ja, was eigentlich?, dachte er.
    »Sagen, dass ich wieder da bin und …«
    »Ja, leider. Mir wär’s lieber, du hättest mir das erspart.«
    »Aber du hast
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