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Böse Schafe: Roman (German Edition)

Böse Schafe: Roman (German Edition)

Titel: Böse Schafe: Roman (German Edition)
Autoren: Katja Lange-Müller
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von einem Besuch zumnächsten kleiner gewesen wären? Und wäre ich öfter gekommen und hätte diese Veränderungen nicht plötzlich, sondern allmählicher wahrgenommen, ich hätte nichts gewonnen, jedenfalls nicht dich zurück. Von dem Harry, den ich liebte und noch liebe, hatte und habe ich ein ganz bestimmtes inneres Bild, das kein späteres überblenden oder gar verdrängen kann. Nur an diesem Bild maß ich, was ich sah. Ich fühlte mich wie ein Zollbeamter, der von einem alten Paßbild auf und in das – jenem Foto längst nicht mehr ähnliche – Gesicht der vor ihm stehenden Gestalt blickt und doch erkennt, ob es sich bei dem im Ausweis und dem Fünfzigjährigen, der gerade ein Flugzeug verlassen hat, um denselben Menschen handelt oder eben nicht. Dein Bild klebte (und klebt) in meinem Gedächtnis. Ich sah, daß du Harry warst, aber im Unterschied zu einem Zöllner erschrak ich jedesmal wieder und mehr, weil deine wirkliche Erscheinung diesem Bild immer weniger entsprach.
    »Wenn es das geben würde, hätte ich gerne eine heißblü tige Schlange, die müßte immer bei mir sein. Und orange gelbe Übergardinen wären ganz phantastisch, obwohl es die ja geben könnte. Ich liege da, wärme mich an meiner Schlange, und durch diese Vorhänge fällt das Licht. Jeden Tag ist es so, als ob die Sonne scheint, egal, was die da draußen für ein Mistwetter haben.«
    Ich kam, wenn ich mich stark genug fühlte oder wenn du anriefst und mich, ohne daß deine Stimme jemals auch nur im entferntesten vorwurfsvoll geklungen hätte, fragtest, wo ich denn bliebe; beides wurde mit der Zeitseltener. Ich saß dann an deinem Bett, erkundigte mich nach dem Einerlei deines Alltags und danach, was du brauchen könntest. Manchmal hattest du keine Wünsche, außer dem einen, der unser Ritual war, manchmal hattest du doch welche. Du wolltest deinen Karatedress, »eine Zitrone zum Schnuppern«, meinen roten Bademantel, »aber nicht frisch gewaschen«, ein Stofftier, wenn möglich einen Tiger oder einen Affen, eine Portion Brühnudeln, eine Kohlroulade, ein Vanilleeis und »sonnengelbe Vorhänge«; auf die Pistole kamst du nie mehr zurück. Bei meinem jeweils nächsten Besuch brachte ich dir das beim jeweils letzten Bestellte. Oft konntest du dich gar nicht daran erinnern, daß du dieses oder jenes verlangt hattest, zogst dennoch ein erfreutes Gesicht und lobtest mich für die »schöne Überraschung«. Aber die gelben Vorhänge, die ich gemeinsam mit deinem Lieblingspfleger Wolfgang an deinem Fenster befestigte, die gefielen dir wirklich; und seit ich dein Heft gelesen habe, weiß ich, warum.
    Ich blieb selten länger als eine Stunde, auch weil du von Mal zu Mal einsilbiger wurdest; du hattest »von dir aus« kaum mehr das Bedürfnis, dich mitzuteilen, warst, wie du es ausdrücktest, »in Gedanken versunken«. Und wenn ich dich fragte, was für Gedanken das wären, lächeltest du und sagtest »keine Ahnung«. Außerdem hattest du im September aufgehört zu rauchen. »Es bekommt mir einfach nicht mehr. Ein Zug, schon belle ich los wie ein Kettenhund. Manchmal rauche ich noch im Traum und erwache schweißgebadet, davon, daß mir kotzübel ist. Sogar das Fernsehen habe ich mir abgewöhnt, weil vor unserer einzigen Glotze wie ein Autokinodauerparker Jogi inseinem Rollstuhl sitzt und eine nach der anderen pafft«, sagtest du; es war einer deiner besseren Tage, einer, an dem du sprachst.
    Also verließ ich, wenn ich rauchen wollte, und wann wollte ich das nicht, dein Zimmer und ging entweder zu diesem Jogi in den »Clubraum« oder, falls der gerade Dienst hatte, zu deinem Lieblingspfleger Wolfgang. Mit Wolfgang ließ sich gut reden; er mochte dich, nannte dich einen »Grande Senior«. Von Wolfgang erfuhr ich, wie es wirklich um dich stand. Er meinte, du hättest nicht nur ein starkes Herz, sondern auch einen starken Charakter. Es hänge viel davon ab, ob du noch eine Weile bereit wärst, die Schmerzen, die du schon hättest und die nur schlimmer würden, zu ertragen. Das sei ja die »verflixte Crux« mit euch Junkies, man könne eure Leiden kaum lindern. »Menschen wie du oder ich«, sagte Wolfgang, »bekämen in seiner Situation Opiate, und alles wäre easy. Aber bei Harry, der ja nach wie vor substituiert wird, seit einiger Zeit mit Polamidon, das weniger deprimierende Nebenwirkungen hat als Methadon, kann Morphium nicht wirken, nicht einmal in höchster Konzentration. Womit, wenn nicht mit Morphium, dem besten uns bekannten Analgetikum, nimmt
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