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Blutlied -1-

Blutlied -1-

Titel: Blutlied -1-
Autoren: Vanessa Farmer
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Gaslicht, das sie nicht gelöscht hatte, warf zarte Schatten. Ein schneller Blick auf die Wanduhr zeigte ihr, dass es gegen drei Uhr morgens war. Mitten in der Nacht.
    Sie atmete flach und spitzte die Ohren. Dann vernahm sie es und ihr Herz stockte für einen Augenblick. Das durfte nicht sein, denn sie war alleine im Haus.
    Holzdielen knarrten.
    Caroline hielt den Atem an. Ein erster Reflex ließ sie die Decke bis zum Kinn hochziehen. Ein zweiter Reflex forderte von ihr, sich darunter zu verstecken. Während sie diesem folgte, schlüpften ihre nackten Füße ins Freie. Wie eine nasse Zunge fuhr ein kühler Hauch darüber. Caroline zog die Beine an und verharrte in Fötusstellung. Ihr Herzschlag pumpte in ihren Ohren. Ihr Atem klang wie ein Blasebalg. Ihre Sinne waren aufs Äußerste gespannt.
    »Feigling!« knurrte sie und stieß die Daunen mit den Beinen weg. Sie schlich auf Zehenspitzen zur Tür. Verhalten atmend drückte sie vorsichtig ihr Ohr an das Holz. Eine Gänsehaut überzog ihren Körper. Es war still. Der Regen hatte aufgehört, auch der Sturm. Ein glühender Halbmond schickte sein kaltes Licht in das Schlafzimmer.
    Atmete da jemand auf der anderen Seite der Tür?
    Der Gedanke, jemand könne dort ebenso wie sie just in dieser Sekunde ... lauschen!, führte dazu, dass ihr kalter Schweiß ausbrach. Obwohl die Fenster geschlossen waren, streichelte sie ein kühler Windhauch.
    Caroline war nie eine ängstliche Person gewesen. Selbst gegen ihren versoffenen Mann – Terence Baily - hatte sie sich erfolgreich zur Wehr gesetzt. Sie war zwar eine Frau ihrer Zeit, dennoch war sie stolz auf ihr weibliches Selbstverständnis. Sie ahnte schon jetzt, dass sie – falls sie sich nicht zusammenriss – das Enfant terrible der Londoner Gesellschaft würde. Zu sehr stand sie zu ihren Überzeugungen und zu schnell war ihre Zunge. Wenn sie nicht aufpasste, würde sie sich, besonders im Kreis der feinen Damen, Feindinnen machen.
    Und nun hatte sie Angst!
    Ein fremdes Haus und auf der anderen Seite der Tür jemand, der zu ihr hin lauschte. Atmete er? Schlug sein Herz in ihrem Takt? Ein Einbrecher? Hatte er versehentlich gelärmt und sie damit aufgeweckt? Caroline wünschte sich, es gäbe eine Möglichkeit, von ihrem Zimmer aus Frederic um Hilfe zu rufen. Unsinn – so etwas würde nie möglich sein.
    Waren da die Fingerspitzen des Eindringlings am Türholz? Betätigte er den Knopf? Würde er die Tür aufstoßen – Gewalt anwenden – morden?! Entfernte er sich? Nur Zentimeter von dem Eindringling entfernt, spürte Caroline dessen Anwesenheit fast schlimmer, als wäre er persönlich vor ihr aufgetaucht. Seine Präsenz war im schlimmsten Sinne gruselig. Würde er sie töten?
    Caroline hatte vieles über jenen Jack the Ripper gelesen, den Inspektor Abberline derzeit in London jagte. Dieser Mann hatte seinen weiblichen Opfern die Kehle durchschnitten. Einigen von ihnen entnahm er die inneren Organe – wie ein Metzger. Allerdings tötete Jack in den Elendsvierteln der Stadt, in Whitechapel oder in Aldgate, sicherlich nicht hier auf dem Lande.
    Deine Phantasie geht mit dir durch!
    Sie zweifelte nicht daran – die Schritte entfernten sich. Hustete der Eindringling? Oder kicherte er? Ein überlegenes Kichern? Ein abwartendes Kichern? Ein Lachen des Irrsinns? Caroline stieß sich mit gestreckten Fingerspitzen von der Tür ab. Sie strich ihre vollen Haare nach hinten und blinzelte in das Dämmerlicht. Wer immer da draußen war – er wusste, dass er nicht alleine war. Er wusste, dass sie – Caroline – hier drinnen war. Es gab also nur zwei Möglichkeiten: Die Tür leise abschließen und sich verstecken, oder ...
    Caroline riss die Tür auf. Sie sprang in den Flur und stieß mit dem Unterkörper gegen das Geländer. Ihr entfuhr ein Schmerzenslaut. Noch war alles fremd und unbekannt. Sie drehte sich um, rannte zurück und grabbelte im Koffer nach dem Morgenmantel, den sie sich überwarf. Nur in ihrem Seidenpyjama wäre sie sich zu dünnhäutig vorgekommen.
    Wieder beugte sie sich über das Geländer. »Wer ist da unten?«, schrie sie. »Wer ist im Haus?«
    Sie beugte sich nach vorne und schnellte im selben Moment wieder zurück, als ihr durch den Kopf fuhr, wie einfach sie es dem Eindringling machte. Nur ein Stoß von hinten würde ausreichen, um sie über das Geländer nach unten in die Halle zu stürzen. Flammen zogen über ihre Haut. Sie drückte ihren Rücken kerzengerade durch. Ihr war, als hätten sich ihre Haare aufgerichtet.
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