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Blutiger Klee: Roman (German Edition)

Blutiger Klee: Roman (German Edition)

Titel: Blutiger Klee: Roman (German Edition)
Autoren: Marlene Faro
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auf den Societyseiten der Zeitungen
abgebildet waren. Auf so einer Treppe ließ es sich gut posieren, da hatten mindestens
100 Menschen Platz. Sie stiegen hinauf und blickten sich dann ratlos an. Wo war
die Klingel? Pestallozzi ergriff entschlossen den eisernen Ring, der an einem der
beiden Türflügel befestigt war und ließ ihn gegen das Holz poltern, es klang, als
ob das ganze Gemäuer über ihnen zusammenstürzen würde. Einen Augenblick später wurde
der Flügel langsam geöffnet, und ein alter Mann stand da und blinzelte sie an. Pestallozzi
dachte, dass er ganz offenkundig auf sie gewartet haben musste, der Mann hätte sonst
wohl eine kleine Ewigkeit gebraucht, um zur Tür zu gelangen.
    »Sie sind
sicher die Herren von der Polizei«, sagte der alte Mann. »Der Krinzinger hat uns
schon gesagt, dass Sie kommen. Bitte, treten Sie doch ein.«
    Er machte
einen vorsichtigen Schritt zurück, und sie betraten die Halle. Wie in ›Tanz der
Vampire‹, dachte Leo, gleich kommt eine Fledermaus geflogen. Die Halle schien so
groß wie das Innere einer Kapelle, mindestens, verblichene Teppiche lagen auf dem
Steinfußboden, riesige Truhen und Schränke waren an den Wänden platziert. Ein Kronleuchter
hing an einer Kette von der Kuppel herab, Pestallozzi musste den Kopf in den Nacken
legen, um zur Decke hinaufzublicken. Eine geschwungene Eichenholztreppe führte in
den ersten Stock, sie war mit einem dunkelroten Läufer belegt. Flügeltüren führten
zu beiden Seiten in weitere Räume. Die Halle war fensterlos, Sonnenlicht drang nur
durch schmale Scheiben längs der Treppe und brachten den roten Läufer zum Leuchten.
Das Ticken einer Standuhr war das einzige Geräusch. Kein Gemälde zierte die Wände,
dafür waren sie von Geweihen bedeckt. Pestallozzi hatte den Eindruck, dass es Hunderte
sein mussten. Er kannte sich mit der Jagd nicht aus, aber selbst ihm war klar, dass
hier Raritäten hingen. Keine mickrigen Rehgeweihe, sondern verzweigte und verästelte
Gebilde, die bestimmt viele Kilos wogen. Bilder von majestätischen Hirschen kamen
ihm in den Sinn, wie sie manches Mal in ›Universum‹ zu sehen waren. Zwölfender,
Zwanzigender, ich habe keine Ahnung davon, dachte Pestallozzi. Aber hier hat jemand
eine Menge Tiere auf dem Gewissen. Er wandte sich dem alten Mann zu, der abwartend
neben ihnen stand.
    »Sie sind
…«
    »Jakob Rittlinger«,
sagte der alte Mann. »Ich bin seit über 30 Jahren bei dem Herrn Baron in Dienst.«
    Er trug
ein gestricktes graues Wams über einem weißen Hemd, das vom vielen Waschen ganz
fadenscheinig war, eine graue Hose aus Flanell und braune Filzschuhe. Pestallozzi
dachte, dass er seltsam ungerührt wirkte. Egal, was für ein Mensch der alte Gleinegg
gewesen war, diese beiden Männer hatten die letzten Jahrzehnte in nächster Nähe
verbracht. Aber andererseits, Tränen hätten zu diesem Jakob Rittlinger am allerwenigsten
gepasst. Menschen trauern auf so unterschiedliche Art und Weise, niemand wusste
das besser als Pestallozzi.
    »Wir müssen
uns später noch mit Ihnen unterhalten«, sagte Pestallozzi.
    Der alte
Mann nickte.
    »Sie finden
mich in der Küche. Die Frau Gräfin erwartet Sie schon.«
    Leo gab
ein Geräusch wie Husten von sich, aber Pestallozzi kümmerte sich nicht darum. Sie
waren in eine Welt eingetaucht, die ihm so fremd war wie ein Indianervolk am Amazonas,
aber jetzt mussten sie sich in dieser Welt bewegen und ihre Ansichten darüber vor
der Tür lassen.
    Jakob Rittlinger
schlurfte voran, durch die Flügeltür zu ihrer Rechten. Sie betraten einen Raum,
der gemütlich hätte sein können, wenn er nicht so klamm und düster gewesen wäre.
Bücherschränke füllten die Wände, ein geblümtes Sofa stand in der Mitte auf einem
Teppich. Samtbezogene Fauteuils waren darum verteilt und Stehlampen mit gefältelten
Schirmen, auf Beistelltischchen standen Fotos in Silberrahmen, Kerzenhalter und
Gestecke aus getrockneten Blumen. Auf dem Sofa saß eine Frau und starrte auf ihre
Hände. Als die drei Männer im Türrahmen erschienen, stand sie auf. Pestallozzi schätzte
sie auf Anfang 40 und war einen Moment lang erstaunt darüber. Die jüngste Tochter
des Herrn Baron, da hatte er sich unwillkürlich eine jüngere Frau vorgestellt. Aber
Gleinegg war ja schon über 90 gewesen, da hatte diese Tochter natürlich das passende
Alter. Die Frau kam ihnen nicht entgegen, aber sie streckte die Hand aus. »Helene
Zilinski. Guten Tag.«
    »Chefinspektor
Artur Pestallozzi, und das ist mein Kollege Leo
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