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Blut und rote Seide

Blut und rote Seide

Titel: Blut und rote Seide
Autoren: Qiu Xiaolong
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abgeschossen.
    Noch brisanter wurde die Situation, als der bekannte Rechtsanwalt Jia Ming die Verteidigung der Bewohner übernahm. Klug wie er war, entdeckte er alsbald weitere Rechtsbrüche bei dieser betrügerischen Transaktion, die nicht nur Peng, sondern auch zahlreiche Regierungsbeamte zu verantworten hatten. Die Medien berichteten ausführlich über den Fall, und die Stadtregierung fürchtete, die Kontrolle zu verlieren. Daraufhin brachte man Peng hinter Gitter und versprach den Klägern einen fairen Prozeß.
    Stirnrunzelnd pflückte Chen eine weitere Seite aus seinem Faxgerät. Dem Schreiben war zu entnehmen, daß Jia heimlich von der Inneren Sicherheit überwacht wurde. Falls die Agenten auch nur den kleinsten Anhaltspunkt fänden, um Jia in Schwierigkeiten zu bringen, würde der Korruptions-Vorwurf in sich zusammenfallen; doch offenbar war ihnen das bislang nicht gelungen.
    Chen knüllte die Seite zu einem Ball zusammen; er war froh um seine Ausrede. Dank des Magisterprogramms konnte er es vermeiden, sich zu sehr auf diesen Fall einzulassen.
    Es war in der Tat eine einmalige Chance, die sich ihm bot, ein maßgeschneidertes Programm für aufstrebende Parteikader, die beruflich mit wichtigen Aufgaben betraut und sehr beschäftigt waren, weshalb man es ihnen ermöglichte, in kurzer Zeit einen höheren akademischen Abschluß zu machen.
    Doch für Chen besaß dieses Programm noch einen weiteren Reiz. Augenscheinlich war seine bisherige Karriere optimal verlaufen. Er war einer der jüngsten Oberinspektoren im Polizeidienst und zudem designierter Nachfolger von Parteisekretär Li Guohua, dem leitenden Kader im Shanghaier Polizeipräsidium. Dennoch war es nicht seine Wunschkarriere gewesen, zumindest nicht damals, nach dem Studium. Obwohl er ein erfolgreicher Polizeibeamter geworden war – zu seiner eigenen wie zur Überraschung anderer – und man ihn mit mehreren »politisch sensiblen Fällen« betraut hatte, fühlte er sich zunehmend frustriert von seiner Arbeit. Einige dieser Fälle waren anders ausgegangen, als ein Polizist sich das wünschen würde.
    Konfuzius sagt: Es gibt Dinge, die ein Mann tun kann, und Dinge, die ein Mann nicht tun kann. Nur leider gab es dafür in diesen turbulenten Umbruchzeiten keine klaren Richtlinien mehr. Das Magisterprogramm, so hoffte er, würde ihm Gelegenheit geben, die Dinge von einer anderen Warte aus zu sehen.
    Für diesen Morgen hatte er sich vorgenommen, Professor Bian Longhua aufzusuchen. Wo ihm das Programm nun schon als Ausrede gedient hatte, konnte er ebensogut Ernst damit machen.
    Unterwegs kaufte er einen Jinhua -Schinken, eingeschlagen in ein besonderes Ölpapier, und folgte damit einer Tradition aus der Frühzeit des Konfuzianismus. Der Weise hätte niemals Geld von seinen Schülern angenommen, geschenkten Hühnern oder Schinken gegenüber war er aber keineswegs abgeneigt. Da es lästig gewesen wäre, einen solchen Schinken im Bus zu transportieren, ließ er sich den Dienstwagen kommen. Während er in dem Delikatessengeschäft wartete, erledigte er gleich noch ein paar weitere Telefongespräche, die den Bauskandal betrafen; die Ergebnisse bestätigten ihn nur in seinem Vorsatz, sich besser nicht einzumischen.
    Der Kleine Zhou, sein Fahrer, erschien früher als erwartet. Er war der erklärte Vertraute des Oberinspektors und würde die Neuigkeit von Chens Besuch bei Bian geflissentlich weiterverbreiten. Und das war auch gut, dachte Chen, während er sich innerlich auf den Besuch bei seinem Professor vorbereitete.
     
    Bian bewohnte eine Vierzimmerwohnung in einem Neubaukomplex in guter Lage. Das war ungewöhnlich für einen Intellektuellen. Bian öffnete selbst. Er war Mitte Siebzig und von durchschnittlicher Größe. Sein Haar schimmerte weiß über dem rosigen Gesicht; für sein Alter und das, was er durchgemacht hatte, wirkte er erstaunlich lebhaft. In seiner Jugend in den fünfziger Jahren ein »Rechtsabweichler«, in den mittleren Jahren während der Kulturrevolution ein »historischer Konterrevolutionär« und im Alter in den Neunzigern ein »beispielhafter Intellektueller«, hatte Bian sich während all der Jahre an die Literaturwissenschaft geklammert wie an einen Rettungsring.
    »Nur ein kleiner Beweis meiner Wertschätzung, Professor Bian«, sagte Chen und hielt das Paket hoch. Er suchte nach einem Platz, wo er den Schinken ablegen konnte, doch das neue, teure Mobiliar schien zu empfindlich für fettiges Ölpapier.
    »Vielen Dank, Oberinspektor Chen«,
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