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Blinder Einsatz

Blinder Einsatz

Titel: Blinder Einsatz
Autoren: Florian Lafani , Gautier Renault
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Gegenteil. All meine Fehler stehen mir vor Augen, all die Fehlentscheidungen, die ich getroffen habe. Und meine Schuld. An irgendeinem Punkt habe ich den Überblick verloren. Ich sah nur noch den Vorteil, den ich aus der ganzen Sache ziehen konnte, und versuchte mir alles schönzureden, indem ich nur an das Zukunftsprojekt der preiswerten Arzneimittel für alle dachte. Mit Entsetzen stelle ich nun fest, dass ich quasi unvermeidlich in diese Sache hineingeschlittert bin. Wenn ich hier über meine Familie geschrieben habe, das mutige Verhalten meines Vaters und die dramatische Flucht meiner Eltern aus Deutschland geschildert habe, dann deshalb, weil ich verstehen möchte, vor welchem Hintergrund ich aufgewachsen bin.
    Immer ging mir im Kopf herum, was mein Vater nach dem Tod meiner Mutter zu mir sagte: »Ich verstehe deine Reaktion. Aber jetzt ist nicht der richtige Zeitpunkt, nach Hause zurückzukehren. Du hast dir etwas vorgenommen, führe es zu Ende. Vor dir liegt das Leben, hinter dir nur der Tod.«
    Immer an die Zukunft denken, nicht zurückschauen. Dieser Rat meines Vaters war mir in schwierigen und verzweifelten Situationen immer eine wertvolle Hilfe. Aber ich hatte ihn nicht gut interpretiert.
    Seit einigen Monaten waren gewisse Archive aus der Zeit des Zweiten Weltkriegs der Öffentlichkeit zugänglich gemacht worden. Das bot mir Gelegenheit, mehr über meinen Vater zu erfahren. Oft wurde in Presseausschnitten und Berichten sein Name nur erwähnt. Ich suchte nach Material über die deutschen Intellektuellen, die die Freiheit der Unterdrückung, das Denken dem Schweigen vorgezogen hatten. Doch das, was ich über meinen Vater fand, entsprach nicht meinen Erwartungen. Als die Amerikaner 1945 nach Heidelberg kamen, hatten sie die dortigen Professoren, die wie mein Vater während des Naziregimes weitergelehrt hatten, vor eine einfache Wahl gestellt: Man bot ihnen einen Neuanfang in den Vereinigten Staaten, wenn sie sich den Idealen der Freiheit und der Aufklärung zuwandten. Falls nicht, würde die internationale Öffentlichkeit dafür sorgen, ihren Ruf zu ruinieren, keiner sollte ungestraft behaupten können, nicht auf irgendeine Weise in das Naziregime verwickelt gewesen zu sein. Ihr weiterer Verbleib in Deutschland wäre Beweis genug.
    Das war eine ganz neue Version der Wahrheit. Ich musste an ein Erlebnis denken, das viele Jahre zurücklag. Damals war ich jemandem begegnet, der 1945 zu den ersten Studenten meines Vaters in Champaign gehört haben wollte. Ich hatte ihm mit Bestimmtheit erklärt, mein Vater sei schon 1943 nach Amerika gekommen und habe dort ab 1944 gelehrt. Doch der ehemalige Student stritt ebenso vehement ab, dass mein Vater 1944 in Champaign war. Tatsächlich hatte er zu dieser Zeit noch in Deutschland gelebt. Zwar hatte er niemals eine leitende Position unter den Nazis innegehabt, doch er hatte sich angepasst, er hatte nicht protestiert und sich damit auf indirekte Weise in den Dienst dieses verbrecherischen Regimes gestellt. Auf keinen Fall war er der Widerstandskämpfer, zu dem er sich immer stilisiert hatte. Er muss sehr darunter gelitten haben, an diesem entscheidenden Punkt seines Lebens nicht die richtige Entscheidung getroffen zu haben. Und ich war letztendlich der Leidtragende, was mir erst jetzt klar wurde.
    Dies war eine sehr schmerzhafte Erkenntnis. Natürlich drängten sich mir Parallelen zu meinem eigenen Leben auf. Bei Kramer Investment hatte ich an Projekten gearbeitet, die sich als verbrecherisch erwiesen, Projekte, die sich anmaßten, in das Leben vieler Menschen einzugreifen. Ich mochte ein brillanter Kopf sein, hatte mir aber nicht meine moralische Integrität bewahrt, sondern meine eigene Person in den Mittelpunkt gestellt, ohne auf die langfristigen Folgen zu achten. Damit hatte ich unbewusst meine Familiengeschichte wiederholt. Zweimal hatte ich Gelegenheit, zur Selbsterkenntnis zu gelangen, beide habe ich nicht genutzt: beim Tod meiner Mutter und als meine Frau erkrankte. Ich lebe noch und versuche nicht mehr, mir etwas vorzumachen. Aber ob das genügt?
    Ich kann mich nicht hinter all den Vernunftgründen verschanzen, die ich zu meiner Rechtfertigung anführen könnte. Mein Vater vertrat fortschrittliche Ideen. Ich habe versucht, mehr Menschen den Zugang zu preiswerten Arzneimitteln zu ermöglichen, was gut zu seinem Bestreben passte, allen Menschen die gleichen Chancen zu eröffnen. Wie oft kommt es jedoch vor, dass sich Menschen dem Guten verschreiben und letztlich nur
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