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Bis auf die Knochen

Bis auf die Knochen

Titel: Bis auf die Knochen
Autoren: Jefferson Bass
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hatte stehen lassen. Der zweite ungl ü ckliche Beamte erfuhr eine Woche sp ä ter eine verbale Vivisektion, gefolgt von gl ü hend hei ß en Handygespr ä chen mit der Dienststelle der Autobahnpolizei und dem Polizeichef. Ein drittes Mal wurde sie nicht angehalten.
    Jess hatte um sechs Uhr angerufen, um Bescheid zu sagen, dass sie am Vormittag nach Knoxville kommen w ü rde. Falls sie in der letzten halben Stunde nicht an einen Mordschauplatz in Chattanooga gerufen worden war, war sie jetzt in ihrem Carrera unterwegs und schoss f ö rmlich auf uns zu wie eine Cruise Missile. Ich hoffte, die Leiche an Ort und Stelle bringen zu k ö nnen, bevor sie in Knoxville eintraf.
    Miranda setzte den institutseigenen Pick-up r ü ckw ä rts an den Zaun, und im Licht der R ü ckfahrscheinwerfer gelang es mir nun leichter, den Schl ü ssel ins Vorh ä ngeschloss am inneren Tor zu stecken. Das innere Tor war Teil eines zwei Meter f ü nfzig hohen Sichtschutzzauns, der aufgestellt worden war, um marodierende Kojoten und zimperliche – oder voyeuristische – Menschen abzuhalten. Urspr ü nglich hatten wir nur einen Maschendrahtzaun, doch nach zwei Jahren, einigen Beschwerden und einer Hand voll Sensationsl ü sterner setzten wir Stacheldraht oben auf den Maschendraht und s ä umten das Gel ä nde auf den ganzen achthundert Metern mit einem Bretterzaun. F ü r flinke Viecher und resolute Menschen war der Zaun immer noch kein wirkliches Hindernis, doch nun mussten sie immerhin etwas mehr M ü he aufbringen.
    Das Vorh ä ngeschloss am Holztor sprang mit einem befriedigenden Klicken auf. Ich l ö ste ein Ende der Kette aus dem B ü gel des Schlosses und schob das Tor nach innen. Die Kette verschwand in dem Loch, das am Rand in das Tor gebohrt worden war, als w ü rde eine st ä hlerne Nudel mit einem gen ü sslichen Rasseln aufgeschl ü rft. In den Schlund des Todes gesaugt, dachte ich. Vermische ich da zwei Metaphern, oder ist das nur ein h ä ssliches Bild, das ich am besten f ü r mich behalte?
    Ich hielt das Holztor auf, und Miranda man ö vrierte den Wagen mit Leichtigkeit durch die schmale Ö ffnung, als w ü rde sie t ä glich Lieferungen zum Eingang des Totenreichs bringen. Was sie praktisch tat. Dank einer Flut von Fernsehdokumentationen und der Beliebtheit von CSI – einer Sendung, die ich mir nur ein einziges Mal ungl ä ubig angesehen hatte – wurden wir in den vergangenen drei Jahren von gespendeten Leichen ü berschwemmt, und die Warteliste (derer, die uns ihre Leichen eines Tages versprochen hatten) belief sich inzwischen auf fast tausend. Bald w ü rden wir keinen Platz mehr haben; und es war jetzt schon schwierig, einen Schritt zu tun, ohne ü ber eine Leiche zu stolpern oder auf glitschigen Boden zu treten, wo k ü rzlich eine Leiche verwest war.
    Rund die H ä lfte der Leichen wurde nur zum Skelettieren hergebracht. Hier ging es zwar etwas langsamer als im Labor, aber es war sehr viel einfacher, Zeit, Bakterien und Insekten – besonders Insekten – ihre schmutzige Arbeit tun und das Fleisch von den Knochen trennen zu lassen. Dank der Effizienz der Natur, ihre Toten wieder zu verwerten, blieb uns nach dem Aufenthalt der Leichen auf der Body Farm nichts mehr zu tun, als die Knochen abzuschrubben und zu desodorieren, die genauen Ma ß e zu nehmen, diese in unsere forensische Datenbank einzugeben und das Skelett unserer wachsenden Sammlung einzuverleiben. Die University of Tennessee besa ß inzwischen die gr öß te Sammlung moderner Skelette, deren Alter, Geschlecht und Ethnie bekannt waren. Das war nicht nur wichtig, um damit zu prahlen, vor allem bot es Rechtsmedizinern eine riesige und stets wachsende Quelle von Vergleichsdaten, die sie zu Rate ziehen konnten, wenn sie es mit dem Skelett eines unbekannten Mordopfers zu tun hatten.
    Die Leiche hinten im Wagen w ü rde jedoch mehr beitragen als nur ihre Knochen. Sie sollte ein entscheidendes Licht auf eine ungekl ä rte forensische Frage werfen. Rund f ü nfzig Leichen pro Jahr fanden in institutseigenen oder studentischen Forschungsprojekten Verwendung, bei denen es in der Regel darum ging, eine Variable der Verwesungsgeschwindigkeit zu untersuchen. Eines unserer letzten Experimente hatte zum Beispiel ergeben, dass Menschen, die kurz nach einer Chemotherapie starben, sehr viel langsamer verwesten als » organische « oder » ganz nat ü rliche « Leichen, wie ich sie seither insgeheim bezeichnete. Chemotherapie war also so etwas Ä hnliches wie eine
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