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Billard um halbzehn

Billard um halbzehn

Titel: Billard um halbzehn
Autoren: Heinrich Böll
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von dort in blonde Barte; barbarische Münder formten im Stabreim den Fluch: ›Rache den ruchlosen Römern wird Wotan aus Wunden erwachsen lassen, wehe, wehe, wehe‹; »Geduld, meine Damen und Herren, nur noch wenige Schritte, hier noch die Überreste eines Gerichtsgebäudes, und da sind sie: die römischen
    Kindergräber.«
    (›Hier, hatte der Kursleiter gesagt, treten Sie als erste schweigend ins Rund und warten, bevor Sie mit den Erklärungen beginnen, die erste Welle der Ergriffenheit ab; es ist reine Instinktsache, meine Damen, wie lange Ihr ergriffenes Schweigen hier dauern muß, hängt wohl auch von der Zusammensetzung der Gruppe ab; lassen Sie sich keinesfalls auf eine Diskussion über die Tatsache ein, daß es sich ja nicht um römische Kindergräber, sondern nur um Grabsteine handelt, die nicht einmal an dieser Stelle gefunden wurden.‹)
    Im Halbrund waren die Grabplatten an graue Mauern gelehnt; überrascht, nachdem die erste Ergriffenheit abgeklungen war, blickten die Besucher nach oben: dunkelblauer Abendhimmel war oberhalb der Neonlampen zu sehen; funkelte da nicht sogar ein früher Stern oder war es nur das Blinken eines vergoldeten, versilberten Knopfs vom Geländer, das sich durch den runden Lichtschacht in fünf Windungen sanft nach oben schraubte?
    »Dort, wo die erste Windung beginnt - Sie sehen den weißen Querstrich im Beton? -, lag ungefähr das Straßenniveau zur
    -279-

    römischen Zeit - bei der zweiten Windung - Sie sehen auch dort den weißen Querstrich im Beton, nicht wahr - das mittelalterliche und schließlich am Beginn der dritten Windung -
    ich kann mir den Hinweis auf den weißen Querstrich wohl ersparen - das heutige Straßenniveau - und nun, meine Damen und Herren, zu den Inschriften.«
    Ihr Gesicht wurde steinern wie das einer Göttin, leicht winkelte sie den Arm hoch, hielt die Stablampe wie einen Fackelstumpf nach oben
    DURA QUIDEM FRANGIT PARVORUM MORTE PARENTES
    CONDICIO RAPIDO PRAECIPITATA GRADU
    SPES AETERNA TAMEN TRIBUET SOLACIA LUCTUS...
    Ein Lächeln zu Ruth hin, der einzigen, die die Ursprache zu würdigen wußte; eine winzige Bewegung zum Kragen der Tweedjacke, den sie zurechtzupfte; die Stablampe ein wenig gesenkt, bevor sie die Übersetzung rezitierte:
    Zwar trifft ein hartes Geschick die Eltern
    mit dem raschen, überstürzt eintretenden Tod
    der Kleinen,
    doch in der Trauer über das zarte Alter,
    das nun dem Paradiese gehört,
    gibt Trost die ewige Hoffnung.
    Sechs Jahre und neun Monate alt birgt dieser
    Grabhügel dich, Desideratus.
    Siebzehn Jahrhunderte alte Trauer fiel in die Gesichter, fiel in die Herzen, lähmte sogar die Kaumuskeln des flämischen Herrn in mittleren Jahren, er ließ den Unterkiefer hängen, während die Zunge rasch den Kaugummi in einen stillen Winkel beförderte; Marianne brach in Tränen aus, Joseph drückte ihren Arm. Ruth legte ihr die Hand auf die Schulter, noch immer steinernen Gesichts zitierte die Fremdenführerin:
    Hard a fate meets with the parents...
    -280-

    Gefährlich der Augenblick, wenn man aus dunklen Grüften wieder nach oben stieg, ans Licht, in die Luft, den sommerlichen Abend; wenn uralter Todesschmerz, tief in die Herzen gesenkt, sich mit der Ahnung von Venusmysterien mischte, wenn einsame Touristen den Kaugummi vor den Kassenschalter spuckten und in gebrochenem Deutsch ein Rendezvous zu verabreden versuchten; Tanz im Hotel Prinz Heinrich; Spaziergang, Abendessen - a lonely feeling, Fräulein; da war man gezwungen, vestalisch zu werden, keinen Flirt anzulegen und jegliche Einladung strikt abzulehnen; nicht anfassen, bitte, nur ansehen; no, Sir, no, no - und spürte doch selbst den Hauch der Verwesung, spürte Mitleid mit traurigen Ausländern, die kopfschüttelnd ihren Liebeshunger in jene Gefilde trugen, wo Venus noch herrschte und, des Wechselkurses kundig, ihren Tarif in Dollars und Pfunden, in Gulden, Franken und Mark zu verkünden sich nicht schämte. Da riß der Kassierer die Eintrittskarten von der Rolle, als führte die schmale Eingangspforte ins Kino, da blieb einem kaum Zeit, im Personalzimmer rasch ein paar Züge zu tun, einen Bissen ins belegte Brot, einen Schluck aus der Thermosflasche, und immer wieder die schwierige Entscheidung, ob es sich lohne, den Zigarettenstummel aufzubewahren, oder ob es angebracht sei, ihn mit spitzem Absatz zu töten; noch einen Zug, noch einen, während die linke Hand den Lippenstift schon aus der Handtasche angelte, während das Herz sich trotzig entschloß, den
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