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Beruehre meine Seele

Beruehre meine Seele

Titel: Beruehre meine Seele
Autoren: Rachel Vincent
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huschte, auf der Suche nach der dunklen Aura, die sich um einen meiner Mitschüler formen und mir zeigen würde, wer in Kürze das Zeitliche segnete. Aber es geschah nichts dergleichen. Der Schrei verweilte im Stadium eines gleichmäßigen, schmerzhaften Drucks im Inneren meines Halses, gerade oberhalb des Kehlkopfes – wo ich ihn verhältnismäßig leicht stoppen konnte, seit ich gelernt hatte, wie das ging. Kurz gesagt, es fühlte sich an, als wäre der unglückliche Todeskandidat ein ganzes Stück weit entfernt, jedenfalls nicht mit mir im selben Raum. Nach dieser Feststellung schaffte ich es immerhin, mich genügend zu entspannen, um die Hand zu heben und mich zu entschuldigen.
    Mr Beck sah mich an und wollte mir durch ein Nicken die Erlaubnis geben, den Raum zu verlassen. Doch in diesem Augenblick kippte Danica Sussman ohne jede Vorwarnung seitlich von ihrem Stuhl und fiel bewusstlos auf den Linoleumboden.
    Die gesamte Klasse schien für eine Sekunde kollektiv die Luft anzuhalten. Dann scharrten Stühle, als mehrere Leute nacheinander aufstanden und neugierig die Köpfe reckten. Ich war so überrascht, dass mir beinahe der Mund aufklappte, was zum Glück nicht geschah. Denn meine fest zusammengepressten Lippen waren das Einzige, das mich davon abhielt, den durchdringenden Schrei auf die Menschheit loszulassen, der in meiner Kehle steckte.
    Mr Beck starrte Danica an und konnte nur schockiert und verwirrt blinzeln, während er stocksteif neben seinem Tisch verharrte.
    War sie es? War es Danica, deren Ende unmittelbar bevorstand? Aber wenn ja, weshalb wurde mein Bedürfnis zu schreien dann nicht stärker?
    Endlich hatte Mr Beck sich von dem Schreck erholt und eilte durch den Gang zwischen den Tischreihen auf Danica zu. Ehe er bei ihr angekommen war, hatte sich jedoch schon Chelsea Simms neben sie gekniet und hielt ihr die flache Hand vors Gesicht, wenige Zentimeter über der Nase. „Sie atmet noch …“ Chelsea richtete sich wieder auf und betrachtete den reglosen Körper unserer ohnmächtigen Klassenkameradin eingehend, offenbar auf der Suche nach irgendwelchen durch den Sturz verursachten Verletzungen. Sie kniff die Augen zusammen, dann keuchte sie mit einem Mal entsetzt auf. „Scheiße, da ist überall Blut!“ Chelsea taumelte auf den Knien rückwärts und stieß mit der Schulter gegen den nächsten Tisch, doch das leise Krachen wurde von dem aufgeregten Tuscheln und Raunen übertönt, das durch die Menge ging.
    Mr Beck kniete sich nun ebenfalls neben Danica, sichtbar alarmiert. „Chelsea, gib im Büro Bescheid. Kurzwahltaste neun.“ Als Chelsea aufstand, zum Lehrerpult lief und sich das Telefon darauf schnappte, sah ich, was allen anderen bereits den nächsten Schreck eingejagt hatte: die immer größer werdende Blutlache, die sich unter Danicas Hüften ausbreitete.
    Und da schwoll der Schrei zu seiner vollen Stärke an. Es kam so plötzlich und mit einer Wucht, wie ich es noch nie erlebt hatte. Während sich die übrigen Anwesenden weiter um Danica scharten, flüsterten und sie anstarrten, bis Mr Beck sie wegscheuchte, saß ich wie angekettet auf meinem Stuhl. Mit beiden Händen umklammerte ich erneut die Seiten meines Tisches und schluckte hart, um das schrille Kreischen zurückzudrängen, das in meinem Inneren wie ein loderndes Feuer wütete und mich zu verbrennen drohte.
    Aber Danica atmete noch. Ich konnte sie durch die Lücke zwischen den beiden Jungs aus dem Basketballteam sehen und wie sich ihre Brust langsam hob und senkte. Ihre Atemzüge waren nicht einmal stockend oder besonders flach. Doch die Intensität des Schreis, der sich zunehmend schwerer unterdrücken ließ, signalisierte mir, dass jemand im Sterben lag und jede Minute sein Leben aushauchen würde. Nur, wenn es nicht Danica war, wer dann?
    „Alles okay?“, fragte Emma, die sich dicht zu mir gebeugt hatte, mit großen sorgenvollen Augen. „Ist es etwa sie ?“
    Ich konnte als Antwort nur ratlos mit den Schultern zucken. Die einzige Möglichkeit, die ich kannte, um es herauszufinden, war …
    Ich erlaubte einem winzigen Fragment des Schreis, durch meine Lippen zu entweichen; ein Geräusch, so leise, dass es niemand außer mir und Emma im Stimmengewirr hörte, das den Raum erfüllte. Aber es genügte. Durch diesen Ton, der die sich vom Körper lösende Seele anzog wie ein Magnet, würde sie für mich sichtbar werden.
    Und tatsächlich erschien über Danica eine substanzlose Kontur. Allerdings ähnelte sie nicht einmal im Entferntesten
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