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Berge versetzen - das Credo eines Grenzgängers

Berge versetzen - das Credo eines Grenzgängers

Titel: Berge versetzen - das Credo eines Grenzgängers
Autoren: BLV Buchverlag GmbH & Co. KG
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Everest hätten steigen oder durch die Antarktis hätten laufen können. Wenn sie es nur mit der gleichen Vehemenz wie ich gewollt, mit der gleichen Besessenheit betrieben hätten. Zum Glück aber wollten und wollen die anderen etwas anderes.
    Meine Welt, der Hintergrund meines Tuns, ist vertikal und horizontal. Gipfel – spitz und hoch, symbolhaft darstellbar wie Pfeile – für Konzentration und Ebenen für Sich-Verlieren. Die entsprechenden Landschaften, die Stimmungen gehören zum Faszinierendsten auf dieser Erde. Erfolge finden dort allerdings nicht statt. Dort lebe ich auch nicht. Ich bin nur zeitweise da, ganz da, und Erfolge kommen heraus wie die Summe beim Addieren.
    Alles beginnt mit einem Tagtraum. Daraus wächst eine Idee. Indem ich mich auf sie konzentriere und an ihr arbeite – wochenlang, monatelang, jahrelang –, entsteht ein Ziel. Ein stiller Entschluss in mir zündet die Tat. Jeder Aufstieg beginnt im Kopf. Der Berg draußen ist nur die Entsprechung. Sich ganz und nur mit einem einzigen Ziel zu identifizieren heißt das Ziel sein.
    Jeder kann sich einen Berg vorstellen: Europäer das Matterhorn, Japaner den Fujiyama, Amerikaner den Devil’s Tower. Ein Berg hat eine klare Form. Vor allem für Kinder bestehen Berge aus klaren Linien. Diese laufen nach oben hin zusammen. Alle ragen sie in die Höhe. Alle Kanten treffen sich in einem Punkt, dem Gipfel. Für Kinder ist es selbstverständlich, dass ich auf einen Berg hinaufsteigen will. Das Ziel ist sichtbar, die Motivation ist vorgegeben.
    Die Geschichte des Bergsteigens zeigt, dass es nicht immer so war. Der Mensch ist zwar schon vor 5000 Jahren auf Berge gestiegen, auf hohe Berge sogar; er tat dies jedoch, um leben zu können. Um den Himalaja zu überqueren, um Tiere über die Alpen zu treiben, um zu jagen.
    Heute klettern wir aus Selbstzweck. Das moderne Selbstzweck-Bergsteigen ist etwa 200 Jahre alt. Entstanden aus Neugierde und Ausgleichsspiel in der jungen Industriegesellschaft. Der Mensch wollte wissen, wie es da oben aussieht, wie die Temperaturen sind. Er wollte immer höher hinauf, immer schwierigere Wege klettern. Er hat inzwischen die höchsten Berge der Welt erreicht und die schwierigsten Wände durchstiegen.
    Stetig vollzog sich der Wandel vom Bergsteigen als Natursportart mit Abenteuercharakter zur Nur-Sportart mit Show – und Rekordcharakter.
    In den letzten 20 bis 30 Jahren habe ich versucht, das Abenteuer Berg durch Verzicht wieder spannend zu machen. Es will nicht gelingen. Ich verzichte mit Absicht auf die Überlegenheit des Menschen dank seiner Technik, um menschliche Fähigkeiten zu fordern, um meine Schwächen und Ängste kennenzulernen. Trotzdem, der Berg wird in unserem Bewusstsein mehr und mehr zum Sportgerät.
    Wir sind risikofeindlich, rekordsüchtig. Wie soll ich Angst als die andere Hälfte des Mutes begreifen, wenn es keine Gefahr gibt? Es gibt keinen Mut ohne Angst. Das Bild vom furchtlosen Helden täuscht. Er ist ein Fantasieprodukt. Ein Held, der keine Angst hat, braucht keinen Mut. Ein Kletterer, der nur schneller oder schwieriger klettern will, lässt den Weg zum Rekord absichern, vorbereiten. Wo bleibt da noch Platz für Zweifel, für Er-fahrungen? So jemand kennt das eine wie das andere nicht. Er ist steril, eindimensional, langweilig.
    Es geht mir beim Bergsteigen nicht darum, irgendeinen Gipfel zu »erobern«. Für wen auch? Wie jede Form von Kolonialismus aufhören muss, hat der Eroberungsalpinismus aufzuhören. Er hat keine Berechtigung mehr.
    Mir geht es um Erfahrungen. Zur wilden Landschaft, den hohen, abweisenden Bergen, der Wüste draußen gibt es in mir eine seelische Entsprechung. Je höher der Berg vor mir, umso größer der Zweifel, die Angst in mir. Riesige Berge entsprechen riesigen Abgründen in uns, in die wir fallen können.
    Trotzdem, beim Bergsteigen ist die Zielsetzung einfach: Der Gipfel ist oben. Er ist sichtbar. Meist ist er auf Landkarten eingetragen. Ich kann ihn vor Ort und anhand von Bildern studieren. Es braucht nicht viel Fantasie, sich als Bergsteiger Problemstellungen an einem Berg auszudenken, vorzustellen.
    Der K2, der zweithöchste Berg der Erde, ist eine gewaltige Pyramide. 42 Matterhörner hätten in ihr Platz. Trotzdem ist er besteigbar. Niemandem aber wird es gelingen, ihn zu überrennen. Heute wollen, am nächsten Tag starten und am dritten Tag den Gipfel
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