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AZRAEL

AZRAEL

Titel: AZRAEL
Autoren: Wolfgang Hohlbein
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er in die Jackentasche, nahm den Hauptschlüssel heraus und öffnete die Tür. Ein weiterer Pluspunkt für ihn und ein weiterer Minuspunkt für Marks Planung. Er hatte vorgehabt, durch ein Fenster zu stei gen. Nicht besonders gefährlich, aber unbequem, und ganz gewiß nicht das, was man sich unter einem großen Abgang vorzustellen hatte.
    Dicht hinter dem Direktor verließ er das Gebäude und erlebte die nächste Überraschung, als er Preins Wagen nur wenige Meter neben der Tür geparkt sah. »Sie hätten mir sagen können, daß Sie Gedanken lesen können«, sagte er. »Das hätte mir in den letzten Jahren wahrscheinlich eine Menge Ärger erspart.«
    Prein lachte. »Aber das ist Grundvoraussetzung für meinen Job«, sagte er. »Wenn man nicht telepathisch veranlagt ist, wird man gar nicht erst eingestellt - wußten Sie das etwa nicht?« Er öffnete den Kofferraum, wartete, bis Mark sein Gepäck hineingelegt hatte, und warf den Deckel dann so schwungvoll zu, daß Mark hastig die Hand zurückziehen mußte.
    »Jemand hat mich verraten«, sagte Mark grimmig.
    »Nein«, antwortete Prein. »Oder doch, ja, Sie selbst.«
    »Ich?«
    Mark blieb überrascht mitten im Schritt stehen und starrte Prein an. Aber der Direktor war schon auf der anderen Seite des Wagens und weigerte sich, Blickkontakt mit ihm aufzunehmen, sondern schloß die Tür auf und stieg ein. Erst als Mark auf dem Beifahrersitz Platz genommen und sich angeschnallt hatte, redete Prein weiter.
    »Das mit dem Wagen, da war ich nicht sicher«, sagte er. »Ich habe gehofft, daß Sie mir diese Chance geben, aber ganz überzeugt war ich nicht. Aber ich war sicher, daß Sie gehen. Und zwar heute, an Ihrem achtzehnten Geburtstag. Eigentlich habe ich Sie schon eine Stunde früher erwartet. Schlag zwölf. Übrigens - herzlichen Glückwunsch.«
    »Und wieso?« fragte Mark. Preins Gratulation überhörte er absichtlich. Heute war sein Geburtstag, aber es bestand absolut kein Grund zum Feiern. Der Direktor startete den Motor und schaltete nacheinander das Licht und die Scheibenwischer ein. Es nieselte leicht, und die Regentropfen zerschellten auf der Windschutzscheibe zu Millionen winziger Prismen.
    »Weil ich Sie kenne, mein lieber Junge«, antwortete er. »Ja, ja, ich weiß - Sie sind nicht mein lieber Junge aber ich bleibe trotzdem dabei. Aus alter Gewohnheit, sozusagen. Sie sind seit sechs Jahren hier, und Sie waren in diesen sechs Jahren nicht unbedingt das, was man einen Musterschüler nennt, nicht wahr? Ich erinnere mich nicht an einen einzigen Monat, in
    dem Ihr Name nicht aus dem einen oder anderen Grund in irgendeiner Besprechung erwähnt wurde - oder bei einer Beschwerde auftauchte. Und vor einem knappen Jahr hat sich das schlagartig geändert. Sie sind immer noch kein Musterschüler, aber längst nicht mehr so renitent und aufsässig wie früher. Dafür gibt es eigentlich nur zwei Erklärungen: Sie sind schlagartig vernünftig geworden oder haben sich entschlossen, die Zähne zusammenzubeißen und es irgendwie durchzustehen, ohne allzuviel Schaden zu nehmen. Und Schüler, die von einem Tag auf den anderen vernünftig werden, sind äußerst selten, das können Sie mir glauben.«
    »Ich wußte nicht, daß ich so leicht zu durchschauen bin«, sagte Mark zerknirscht.
    »Nur keine Sorge, das sind Sie nicht«, antwortete Prein. Plötzlich lachte er wieder. »Soll ich Ihnen verraten, woher ich so genau wußte, wann Sie abreisen? Sie haben vor zwei Wochen das Ticket gekauft. Der Mann am Fahrkartenschalter hat mich angerufen.«
    »Wie bitte?« fragte Mark entrüstet.
    »Das hier ist eine kleine Stadt«, sagte Prein. »Sie sind nicht der erste Internatszögling, der sich klammheimlich eine Fahrkarte besorgt und abreist. Wir haben... gewisse Vereinbarungen mit den Leuten am Bahnhof.«
    »Interessant«, sagte Mark. »Aber nicht so ganz legal, oder?«
    »Keine Ahnung«, gestand Prein. »Und im Moment wohl auch ziemlich gleichgültig. Haben Sie wenigstens vor, weiter z ur Schule zu gehen? Sie wissen, daß Sie das Abi mit links schaffen können, wenn Sie sich nur ein bißchen anstrengen.«
    »Also kommen Sie endlich zum Thema«, sagte Mark. Der Wagen hatte die Ausfahrt erreicht, und Prein warf einen raschen Blick in beide Richtungen die Straße hinunter, bevor er Gas gab. Obwohl das Internat mitten in der Stadt lag, waren sie das einzige Fahrzeug, das unterwegs zu sein schien.
    »Das bin ich schon die ganze Zeit«, antwortete Prein. »Wir reden über Sie, oder etwa nicht? Und
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